Begabungsförderung dauerhaft an Schulen verankern

Die Lehrerinnen Imona Otte und Karen Korge entwickeln gemeinsam mit den Forschenden Professorin Franzis Preckel und Julia Matthes einen diagnostischen „Werkzeugkoffer“, der Lehrkräfte bei der gezielten Suche nach Begabungen von Kindern unterstützt.

Bilder der vier Interviewpartnerinnen als Collage

Die Forschenden Julia Matthes (oben links) und Professorin Franzis Preckel (oben rechts) sowie die Lehrerin Imona Otte und Schulleiterin Karen Korge (unten) im Online-Interview.

DLR Projektträger

Frau Korge, die Eigenherd-Schule in Kleinmachnow in Brandenburg hat schon viel Erfahrung in der Förderung von Leistungsstarken. Um was geht es Ihnen als Schulleiterin bei „Leistung macht Schule“?

Korge: Wir beschäftigen uns seit 2014 mit Begabungs- und Leistungsförderung. Für uns geht es darum, dieses Thema dauerhaft an unserer Schule zu verankern. Mit herkömmlichen Fortbildungen geht jede Lehrkraft individuell um. Für mich als Schulleiterin ist es aber wichtig, langfristig vergleichbare Standards zu setzen, sodass jedes Kind bei jeder Lehrkraft, in jeder Klasse die gleichen Fördermöglichkeiten vorfindet. Mit „Leistung macht Schule“ werden bei unseren Lehrkräften immer wieder Anlässe geschaffen, die eigene Arbeit zu reflektieren. Das ist ein kontinuierlicher Prozess, der dazu führt, dass sie ihre Schülerinnen und Schüler zuverlässig diagnostizieren können, mit Werkzeugen, die aus der Wissenschaft kommen.

Warum sollten sich Lehrkräfte immer wieder mit Diagnostik beschäftigen?

Preckel: In der Ausbildung werden Lehrkräfte kaum darauf vorbereitet, die Potenziale ihrer Schülerinnen und Schüler zu erkennen. Aus der Forschung wissen wir zudem, dass die diagnostischen Kompetenzen der Lehrkräfte sehr stark variieren. Verfügt eine Lehrkraft in Mathematik über hohe diagnostische Kompetenzen, so bedeutet das nicht automatisch, dass sie auch in Deutsch oder im Sachunterricht vergleichbare Fertigkeiten hat. Deshalb ist es sinnvoll, dass Lehrkräfte ihr diagnostisches Vorgehen immer wieder hinterfragen und ihr Wissen darüber ausbauen.

Welche Werkzeuge entwickeln Sie bei „Leistung macht Schule“, die den Lehrkräften dabei helfen?

Preckel: Gemeinsam mit den Lehrkräften und den Forschenden aus der Fachdidaktik und der Empirischen Bildungsforschung entwickeln wir einen „Werkzeugkoffer“. Das ist eine Materialsammlung, die den diagnostischen Prozess lenkt und unterstützt. Wir konzentrieren uns auf den Bereich mathematischer und naturwissenschaftlicher Begabung im Grundschulalter und damit auf den Mathematik- und den Sachunterricht. Aber grundsätzlich ist das System auch auf andere Begabungsbereiche, Fächer und Schulformen erweiterbar.

Aus welchen Bestandteilen setzt sich der Werkzeugkoffer zusammen?

Preckel: Zum Beispiel aus den LUPE-Stunden. LUPE ist die Abkürzung für unser Teilprojekt Leistung unterstützen, Potenziale erkennen. Die LUPE-Stunden können mit der ganzen Klasse durchgeführt werden. Sie schaffen durch offene Aufgabenstellungen Gelegenheiten für die Lehrkräfte, ausgewählte Begabungsmerkmale bei den Schülerinnen und Schülern zu beobachten. Dabei nutzen sie Beobachtungsbögen, die ihren Blick zusätzlich lenken können. Die LUPE-Interviews werden mit einzelnen Kindern durchgeführt – auch zwischen den Stunden oder in der Pause. Bei ihnen geht es vor allem um die spontane Ausrichtung der Aufmerksamkeit oder um die Interessen der Kinder. Die LUPE-Fragebögen können ökonomisch in Gruppen ausgefüllt werden und sie geben erste Hinweise auf verschiedene Merkmale der Motivation der Kinder.

Matthes: Für unseren Werkzeugkoffer entwickeln wir zunächst Entwürfe. Die Lehrkräfte melden uns dann zurück, ob die einzelnen Instrumente verständlich sind, die Gestaltung für die Kinder ansprechend und ob der Umfang realistisch ist. Nach einer ersten Überarbeitung erproben die Lehrkräfte das Material dann im Unterricht. Dadurch erhalten wir Informationen darüber, wie praxistauglich es ist. So wird der Werkzeugkoffer fortlaufend weiterentwickelt und angepasst.

Flußdiagramm des Entwicklungsprozesses

Der Entwicklungsprozess von diagnostischen Materialien auf einen Blick.

Universität Trier, Fachbereich Psychologie, Abteilung für Hochbegabtenforschung

Und gibt es dazu auch ein Begleitprogramm?

Matthes: Wir erstellen Hintergrundinformationen dazu, digitale Weiterbildungen und auch eine E-Learning-Reihe. Darin beschäftigen wir uns zum Beispiel mit der Haltung zur Begabungsförderung, dem Grundlagenwissen zu Begabung und Leistung und zur Talententwicklung. Aber auch mit Wahrnehmung und Beobachtung im Unterricht.

In welchen zeitlichen Abständen sollte das Material eingesetzt werden?

Preckel: Es ist so angelegt, dass pro Schulhalbjahr zwei bis drei Bestandteile des LUPE-Koffers in den Klassenstufen eingeplant werden – je nach Bestandteil dauert das zwischen fünfzehn Minuten und zweieinhalb Schulstunden. Die LUPE-Stunden sind bei der ersten Durchführung recht aufwendig, aber wenn sie standardmäßig eingeführt werden, geht das mit der Zeit immer schneller. Die LUPE-Fragebögen können zu Beginn der ersten und der dritten Klasse einsetzt werden. Die LUPE-Interviews und die Beobachtungsbögen sind im Grunde jederzeit und immer wieder einsetzbar.

Warum sollten die Materialien regelmäßig angewendet werden?

Preckel: Kinder entwickeln sich unterschiedlich schnell und bringen Stärken in verschiedenen Bereichen zum Vorschein. Manche Begabungsmerkmale werden sehr früh sichtbar, andere deutlich später. Deswegen ist der Werkzeugkoffer auf die ersten vier Grundschuljahre ausgelegt. Er unterstützt damit eine Entwicklungsperspektive der Lehrkräfte auf die Talententwicklung im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich. Das verändert oft den Blick auf Potenziale und Leistungsstärken. Lehrkräfte wissen dann, dass sie sich immer wieder auf die Suche nach Begabungen machen müssen.

Wie können wir uns die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Schule vorstellen?

Preckel: Damit die Materialien in der Praxis funktionieren können, benötigen wir die Expertise der Lehrkräfte. Deshalb sind die Rückmeldungen, die uns die Lehrkräfte in Arbeitsgruppen, Telefongesprächen oder schriftlich geben, so wichtig für uns. Zum Beispiel erhalten wir sehr gute Verbesserungsvorschläge dazu, wie wir die Inhalte noch anreichern können, damit sie an Schulen besser umzusetzen sind.

Frau Otte, wie profitieren Sie als Lehrerin von „Leistung macht Schule“?

Otte: Mit den LUPE-Materialien kann ich meine persönliche Einschätzung besser wissenschaftlich überprüfen oder untermauern. Ich habe meine Schülerinnen und Schüler schon immer gern diagnostiziert, aber jetzt schaue ich noch genauer hin. Zudem sind wir Lehrkräfte über die Zusammenarbeit mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gut über den aktuellen Forschungsstand der Begabungsförderung informiert. Mit den Anregungen aus der Uni überdenken wir unser Tun immer wieder. Das ist eine tolle Sache!

Korge: Die LUPE-Materialien stoßen kontinuierlich einen Reflexionsprozess an. Dadurch haben wir letztlich auch viel mehr Austausch im Kollegium über bestimmte Fachthemen und Sachverhalte. So wird die Fortbildungsflamme dauerhaft am Köcheln gehalten.

Wie laufen eine LUPE-Stunde und ihre Nachbereitung ab? Können Sie ein Beispiel geben?

Korge: Mit einer Würfel-Stunde im Mathematikunterricht, die von der Uni vorbereitet wurde, haben wir zum Beispiel das räumliche Denken unserer Kinder überprüft. Dafür haben sie mit Würfeln experimentiert, Würfel gebaut und verschiedene Aufgaben dazu gelöst. Danach haben wir der Uni zurückgemeldet, was funktioniert hat und was nicht. Oft haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zwar eine sehr gute Vorstellung davon, wie die Leistungsfähigkeit eines Kindes zum Beispiel im räumlichen Denken abgerufen werden kann, aber in der Anwendung merken wir manchmal, dass etwa die Aufgabenformulierung für Kinder einer bestimmten Jahrgangsstufe nicht gut verständlich ist. Dann wird das Material verbessert. In diesem Prozess wird gleichzeitig auch die Analysefähigkeit der Lehrkräfte geschult.

Gab es bei der Projektarbeit schon mal ein Aha-Erlebnis?

Otte: Ja, als ich eine Unterrichtsstunde zur Zahlenraumerweiterung mit meinen Kindern detailliert reflektiert habe. Dafür habe ich Material aus unserem Werkzeugkoffer genutzt. Ich reflektiere meine Stunden zwar immer, aber nicht so intensiv und individuell wie in diesem Fall. So habe ich tatsächlich noch ein leistungsstarkes Kind entdecken können. Es ist ein Kind mit ADHS und einer Rechtschreibschwäche. Trotzdem ist es, was ich schon vermutet hatte, besonders stark im mathematischen Bereich. Und das hätte ich in den normalen Unterrichtsstunden vielleicht nicht so eindeutig herausgefunden. Wir Lehrkräfte könnten uns solche Materialien zwar auch selbst erstellen, aber mit der Expertise der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geht das natürlich viel zielgerichteter.

Matthes: Das ist die erhoffte Wirkung des Materials. Es soll immer wieder Anlässe schaffen, sich mit dem Blick auf das Potenzial der Kinder mit den eigenen diagnostischen Kompetenzen auseinanderzusetzen. An der Eigenherd-Grundschule gibt es dafür eine sehr gute Grundlage. Das ist die Voraussetzung für ein solches Vorgehen. Wir konzentrieren uns in unserem Projekt zwar auf die diagnostischen Kompetenzen der Lehrkräfte. Aber gleichzeitig brauchen Schulen ein entsprechendes Begabungsverständnis und passende Förderansätze, um ihre Schülerinnen und Schüler optimal zu fördern.

Frau Otte und Frau Korge, wie setzen Sie die Prinzipien von „Leistung macht Schule“ im Schulalltag um?

Otte: An unserer Schule arbeiten wir in Jahrgangsstufen-Teams. Das heißt, die Lehrkräfte eines Jahrgangs erarbeiten Unterrichtsstunden und Tests gemeinsam und werten sie auch zusammen aus. Dabei geben wir uns Rückmeldungen, auch zu unseren diagnostischen Kompetenzen. Über dieses Teamwork können wir dafür sorgen, dass die Kinder wirklich gleiche Voraussetzungen vorfinden, unabhängig davon, bei welcher Lehrkraft sie lernen.

Korge: Damit die Jahrgangsstufen-Teams auch räumlich zusammenfinden, haben wir ein eigenes Arbeitszimmer eingerichtet. Mittlerweile klappt die Zusammenarbeit in fast allen Jahrgangsstufen hervorragend. Das ist für alle eine große Arbeitserleichterung. Aber mit diesem System sichern wir vor allem das Wissen an unserer Schule. Gibt es Personalwechsel im Kollegium, können sich neue Kolleginnen und Kollegen gleich besser in die bestehenden Systeme integrieren.

Warum nehmen Sie das gesamte Kollegium mit in das Projekt?

Korge: Würde ich das nicht tun, dann riefe das bei einem Teil des Kollegiums sicherlich eine „Lass die mal machen“-Haltung hervor. Deshalb war es mir wichtig, dass wir diesen Prozess gemeinsam beginnen. Wir haben uns in einer Lehrerkonferenz 2014 alle gemeinsam zur aktiven Begabungsförderung entschlossen, mit allen Konsequenzen. So ziehen wir nun alle an einem Strang. Manche stärker, manche schwächer, aber wir gehen alle durch diesen Prozess.

Frau Korge, Sie setzen sich als Schulleiterin leidenschaftlich für die Förderung leistungsstarker Kinder ein. Wie sind Sie dazu gekommen?

Korge: Als ich eine ganz junge Lehrerin war, hatte ich einen Schüler in meiner Klasse, der ständig störte und keine Hausaufgaben machte. Ich hatte den Eindruck, er könne nicht viel und habe ihm eine Realschul-Empfehlung ausgesprochen. Jahre später traf ich ihn wieder und er erzählte mir: „Frau Korge, ich habe eine Klasse übersprungen, mein Abi mit 1,0 gemacht und studiere jetzt.“ Der Junge war ein klassischer Minderleister, also ein Kind, das zwar leistungsstark ist, aber dauerhaft unter seinen Möglichkeiten bleibt. Mit einer anderen Wahrnehmung und einer passenden Diagnostik hätte ich ihn schon früher gezielt fördern können. Das war der ausschlaggebende Impuls für mich.

Frau Professorin Preckel, Frau Matthes, Frau Korge und Frau Otte, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Prof. Dr. Franzis Preckel

Die Psychologin Franzis Preckel leitet den Lehrstuhl für Hochbegabtenforschung und -förderung im Fach Psychologie an der Universität Trier. Sie beschäftigt sich unter anderem mit Hochbegabung, Einflussfaktoren der Leistungsentwicklung und psychologischer Diagnostik. Sie ist Mitglied der Steuergruppe von „Leistung macht Schule“.

Wissenschaftliche Mitarbeiterin Julia Matthes

Julia Matthes hat Psychologie an der Technischen Universität Dresden und der Universität Trier studiert. Sie ist Teil eines fünfköpfigen „Leistung macht Schule“-Teams an der Uni Trier. Ihre Doktorarbeit verfasst sie in der Abteilung für Hochbegabtenforschung und -förderung zur Entwicklung der kognitiven Motivation (Need for cognition) und ihrer Bedeutung für die schulische Leistungsentwicklung.

Schulleiterin Karen Korge

Seit 2014 ist Karen Korge Schulleiterin der Eigenherd-Grundschule in Kleinmachnow in Brandenburg. Sie hat Geschichte und Grundschulpädagogik an der Freien Universität Berlin studiert und unterrichtet inzwischen seit 26 Jahren. Sie ermutigt ihre Lehrkräfte zusammenzuarbeiten und Neues auszuprobieren.

Lehrerin Imona Otte

Am Institut für Lehrerbildung in Schwerin hat Imona Otte Deutsch, Mathematik, Sachunterricht und Musik studiert. Den Abschluss für das Fach Englisch hat sie berufsbegleitend erworben. Seit 2002 ist sie Klassenlehrerin und Fachkonferenzleiterin für das Fach Englisch an der Eigenherd-Schule. Sie liebt ihren Beruf, weil sie sich darin kontinuierlich weiterentwickeln und immer wieder neu erfinden kann.