Forschend lernen im Biologieunterricht

In einer Lernwerkstatt können Schülerinnen und Schüler eigenständig selbst gewählte Forschungsfragen bearbeiten. So entdecken sie nicht nur eine ganz neue Form des Lernens, sondern können auch ihre individuellen Stärken und Interessen einbringen. Die Lehrerin Angela Schüler und Professorin Julia Schwanewedel erklären, welche Potenziale das Konzept für den Unterricht hat und wie sie Lernwerkstattboxen gemeinsam entwickeln.

Gruppenarbeit in der Schule

Schülerinnen und Schüler tragen zusammen, was sie erforscht haben

Adobe Stock / Syda Productions

Frau Schüler, Frau Professorin Schwanewedel, Sie arbeiten mit dem Konzept der Lernwerkstatt, um im Biologieunterricht Begabungen und Potenziale von Schülerinnen und Schülern zu fördern. Frau Schwanewedel, was genau verstehen Sie unter einer „Lernwerkstatt“?

Julia Schwanewedel: Die zentralen Elemente sind bereits im Begriff enthalten: Es geht um einen Raum, in dem Menschen etwas lernen. Diesen Raum sehen wir als Werkstatt, in der eine Auswahl an Werkzeugen zur Verfügung steht. Das Besondere an unserer Lernwerkstatt ist, dass Schülerinnen und Schüler selbstständig und eigeninitiativ ihr Lern-Werkzeug für den Biologieunterricht wählen dürfen. Die Lernwerkstatt wird vor allem für das Forschende Lernen genutzt. Das Forschen ist eine zentrale Dimension in den naturwissenschaftlichen Disziplinen.

Das Ziel, das Sie mit der Lernwerkstatt im Biologieunterricht verfolgen, ist also, dass Schülerinnen und Schüler selbst forschen?

Julia Schwanewedel: Genau, das Forschende Lernen soll gefördert werden. Die Lernwerkstatt-Arbeit hat drei zentrale Elemente: Das erste Element ist der Raum selbst: Das können wir uns wie bei einer realen Werkstatt vorstellen, es gibt große und kleine, gut oder schlecht ausgestattete Räume. So ist es auch bei der Lernwerkstatt: Die Gestaltung des Raums ist wichtig. Das zweite Element sind die Schülerinnen und Schüler. Das dritte Element ist die Lehrkraft, die hier einen Rollenwechsel vollzieht: Von einer Lehrkraft, die alles weiß, hin zu einer Lernbegleitung, die beobachtet, Impulse gibt und gemeinsam mit ihrer Klasse forscht.

Frau Schüler, wie können wir uns die Lernwerkstatt bei Ihnen im Unterricht vorstellen?

Angela Schüler: Für die Lernwerkstatt nutzen wir in unserer Schule einen relativ großen Fachraum des Bereichs Naturwissenschaften. Außerdem gibt es Lernwerkstatt-Boxen zu verschiedenen Themen. Das sind Kunststoffboxen mit Materialien, die den Schülerinnen und Schülern unterschiedliche Zugänge zum Forschenden Lernen bieten. Wir bereiten den Raum vor, indem wir die Materialien der Box im Raum verteilen. Die Schülerinnen und Schüler können dann auswählen, womit sie sich beschäftigen möchten. Der Arbeitsauftrag lautet zum Beispiel: Formuliert eigene Fragen zu den Stationen.

Der Raum der Lernwerkstatt wird von den Schülerinnen und Schülern ganz vielfältig genutzt: Es gibt Kinder und Jugendliche, die in einer kleinen Gruppe umherlaufen und vieles ausprobieren. Dann gibt es einige, die die kompletten zwei Stunden an einer Station bleiben und sich sehr intensiv mit dem Material beschäftigen. So ein frei nutzbarer Raum ist für die Kinder und Jugendlichen oft Neuland. Die Lernwerkstatt ermöglicht ihnen auf Entdeckungsreise zu gehen und individuell zu lernen.

Was ist denn in einer Lernwerkstatt-Box enthalten?

Angela Schüler: Mit Material aus der Box zum Blutkreislauf können die Schülerinnen und Schüler beispielsweise einen Blutkreislauf entdeckend nachbauen. Sie haben dazu eine kurze Anleitung und wissen im Groben, wie ein Blutkreislauf aussieht. Zur Verfügung stehen ihnen außerdem Materialien aus dem Baumarkt: Ventile, Plastikschläuche, Behältnisse, ein Apparat zum Pumpen und rote Flüssigkeit. Damit können sie herausfinden, wie ein Blutkreislauf funktioniert.

Modell eines Blutkreislaufs

Eine Schülerin und ein Schüler haben mit Schläuchen und Ventilen ein Modell eines Blutkreislaufs gebaut

SadJ

In der Box sind auch Informationstexte, Abbildungen und haptische Elemente. Zum Beispiel enthält sie unterschiedliche Pflaster, Bilder von blauen Flecken und auch kleine Memories, die man gemeinsam spielen kann, um Begriffe zu festigen. Es gibt also Material zum Bauen, zum Experimentieren, zum Lesen, zum Spielen und um künstlerisch aktiv zu werden.

Wie reagieren die Schülerinnen und Schüler auf dieses neue Konzept?

Angela Schüler: Zunächst erkläre ich den Schülerinnen und Schülern, was eine Lernwerkstatt ist, damit sie eine Vorstellung bekommen, was sie in diesem Raum erwartet und welche Möglichkeiten sie haben. Bei allen Klassen kam gut an, dass es verschiedene Zugänge zum Thema gibt und dass sie über wirklich viele Freiheiten verfügen. Sie haben diese Freiheiten nicht im negativen Sinne ausgenutzt. Das hat mich ein wenig überrascht, aber natürlich sehr erfreut.

Erreichen Sie mit der Lernwerkstatt Schülerinnen und Schüler anders als bisher?

Angela Schüler: Wir sind eine integrative Sekundarschule, an der alle Schülerinnen und Schüler zusammenkommen, die nicht an einem Gymnasium sind. Wir haben eine unglaublich heterogene Schülerschaft und auch immer mal wieder Kinder oder Jugendliche, die mit Schule ein Stück weit abgeschlossen haben, die negative Erfahrungen machen mussten oder denen andere Schwierigkeiten im Weg stehen, weshalb sie sich nicht wirklich auf das Lernen konzentrieren können. Die Lernwerkstatt bietet gerade auch diesen Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, einmal eine ganz andere Form von Lernen kennenzulernen und auszuprobieren.

Frau Schwanewedel, entsprechen diese Eindrücke Ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen und Erwartungen?

Julia Schwanewedel: Was Frau Schüler beschrieben hat, ist genau das, was wir uns wünschen. Die Lernwerkstatt-Arbeit, die das Forschende Lernen fördert, ist eine potenzial-initiierende Methode. Eine Lehrkraft sollte immer zuerst einmal davon ausgehen, dass Potenziale vorhanden sind. Im nächsten Schritt geht es dann darum, zu ermöglichen, dass sich die leistungsbezogenen Potenziale entfalten können. Das hat Frau Schüler gerade beschrieben: Wenn ich keinen entsprechenden Rahmen im Unterricht habe, kann ich bestimmte Dinge nicht beobachten. Bildlich gesprochen: Wenn ich wissen will, ob ein Kind einen Hammer einsetzen kann, im Unterricht aber keinen Hammer anbiete, kann ich auch nicht sehen, ob es mit einem Hammer umgehen kann. Das heißt, die Lernwerkstatt-Arbeit, diese offene Form des Lernens, soll ermöglichen, dass Begabungen sichtbar werden und so von den Lehrkräften überhaupt erst als solche erkannt werden können.

Mit „Leistung macht Schule“ werden insbesondere auch potenziell leistungsstarke Schülerinnen und Schüler in den Blick genommen. Welche Vorteile bietet die Lernwerkstatt für diese Gruppe?

Julia Schwanewedel: Wir wissen aus der Forschung, dass leistungsstarke Kinder und Jugendliche in den Naturwissenschaften häufig ungewöhnliche Wege gehen, kreative Experimentierlösungen finden und oft ein ganz großes Detailwissen zu einzelnen Themen haben. Wir nutzen Methoden, die besonders diesen Kindern und Jugendlichen zugutekommen.

Die Lernwerkstatt-Arbeit ist – und das ist der Unterschied zur Förderung außerhalb des regulären Unterrichts – dazu geeignet, alle Schülerinnen und Schüler in einer Klasse mitzunehmen, wie Frau Schüler es gerade für ihre heterogene Schülerschaft beschrieben hat. Das heißt, alle Kinder und Jugendlichen können jede Aufgabe bearbeiten, und ich habe nicht die „Einstein-Gruppe“, die eine Extra-Aufgabe bekommt. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten alle an einem Thema. Sie tun dies eben auf Basis unterschiedlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten, in unterschiedlicher fachlicher Tiefe und mithilfe unterschiedlicher Zugänge, so dass im Unterricht später alle Lösungen zusammengeführt werden können. Wenn leistungsstarke Kinder oder Jugendliche darunter sind, die fachlich anspruchsvolle, ungewöhnliche oder kreative Forschungsfragen entwickelt haben und diesen nachgegangen sind, kann ich das wiederum für alle nutzen und die anderen können davon profitieren.

Frau Schüler, die Lernwerkstatt-Arbeit stellt auch an Sie als Lehrerin neue Anforderungen. Gibt es auch begleitende Materialien für Lehrkräfte?

Angela Schüler: Ja, wir haben ein Handbuch erhalten, in dem das Grundkonzept und die wissenschaftlichen Ansätze beschrieben sind. Damit wird klar, wie Begabungsförderung durch die Materialien ablaufen kann. Das Handbuch macht deutlich, dass wir Schülerinnen und Schülern erst einmal die Gelegenheit geben müssen, ihre Begabung zu zeigen. Außerdem gibt es Hinweise, wie wir im Unterricht Impulse setzen und welche Bereiche von Begabungen mit den einzelnen Materialien gefördert werden können. Daraus kann man ableiten, für welche Kinder und Jugendlichen welches Material besonders anregend sein könnte und ob ich Zugänge ergänzen muss.

Wir nähern uns mit großen Schritten dem Transfer der Ergebnisse der Initiative „Leistung macht Schule“ auf viele neue Schulen. Frau Schwanewedel, was geben Sie den Schulen, die noch gar nichts von der Lernwerkstatt-Arbeit gehört haben, mit an die Hand?

Julia Schwanewedel: Die Lernwerkstatt-Arbeit und die Boxen zum Forschenden Lernen sind nicht die einzigen Produkte, die wir gemeinsam mit den Schulen entwickelt und erprobt haben. Wir haben beispielsweise sogenannte komplexe, offene Aufgaben zu verschiedenen Themen des naturwissenschaftlichen Unterrichts in der Primar- und Sekundarstufe entwickelt. Außerdem ist ein Handbuch zur Haltung und Rolle der Lehrkraft mit Übungen zur Förderung einer potenzialorientierten Haltung im Unterricht entstanden. Alle unsere Produkte enthalten bereits Anpassungen, die die Lehrkräfte an den beteiligten Schulen nach der Erprobung angeregt haben. Diese Rückmeldungen von Schulen sind für uns ganz entscheidend! Durch den Praxistest und die Rückmeldung sind aus unseren wissenschaftlichen Prototypen nun erprobte Praxisprodukte geworden.

Das einzelne Produkt ist nicht nur das Material, sondern es umfasst auch das Konzept dahinter. Schon beim Verbreiten der Konzepte innerhalb der beteiligten Schulen haben wir gesehen, wie wichtig Lehrkräfte wie Frau Schüler als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren innerhalb der Kollegien sind. Auch für den Transfer der Ergebnisse an neue Schulen setzen wir auf die Unterstützung durch die Lehrerinnen und Lehrer, die bereits mit unseren Materialen gearbeitet haben.

Bei „Leistung macht Schule“ nennen wir die Ergebnisse unserer Arbeit „P³rodukte“. P³ steht für Produkt, Person und Prozess. Unsere Produkte sind immer als Zusammenspiel von Produkt, Prozess und Person zu verstehen, weil sie im Zusammenhang mit dem Prozess der Entwicklung und Anwendung stehen und durch Personen angeleitet, transferiert und weiterentwickelt werden.

Frau Schüler, was würden Sie tun, um Kolleginnen und Kollegen an einer anderen Schule für Lernwerkstätten zu gewinnen?

Angela Schüler: Ich würde ihnen die Lernwerkstatt-Arbeit einfach zeigen! Ich würde sie zu Hospitationen einladen, denn so habe ich das Forschende Lernen selbst auch kennengelernt. Neben vielen Einblicken in neue Schulkonzepte hat mich das am meisten begeistert und überzeugt. Es hat in mir den Wunsch geweckt, als Lehrerin eine neue Rolle einzunehmen: die einer Lernbegleiterin. So wie das Forschende Lernen für Schülerinnen und Schüler funktioniert, so sollte es doch auch für Lehrkräfte funktionieren: durch Sehen und selbst Erforschen!

Frau Schüler, Frau Professorin Schwanewedel, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Professorin Julia Schwanewedel

Julia Schwanewedel hat die Fächer Biologie und Englisch studiert und im Fachbereich Biologiedidaktik promoviert. Sie hat an den Universitäten Oldenburg und Kassel, am Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik in Kiel (IPN) und an der Humboldt-Universität zu Berlin geforscht. Seit 2020 ist sie Professorin für Biologiedidaktik an der Universität Hamburg. Sie wird bei „Leistung macht Schule“ tatkräftig unterstützt von ihren Mitarbeiterinnen Doktorin Anke Renger und Norma Martins.

Lehrerin Angela Schüler

Angela Schüler hat im Jahr 2018 ihre Lehramtsausbildung für die Fächer Biologie und Deutsch abgeschlossen. Seitdem arbeitet sie an der Schule an der Jungfernheide in Berlin. In der Initiative „Leistung macht Schule“ arbeitet sie an ihrer Schule intensiv mit ihren Kolleginnen Elisa Reichelt und Franziska Kaiser zusammen. Gemeinsam bilden sie die Arbeitsgruppe Begabungsförderung.