Hilfreich für das Lernen auf Distanz: „Leistung macht Schule“ bewährt sich während der Corona-Pandemie

Die Lehrerin Claudia Kirchhoff und die Forschenden Wiebke Auhagen und Professor Ralf Benölken fördern die Talente von Kindern und Jugendlichen in der Mathematik. Während des Lockdowns hat sich gezeigt, dass ihre Instrumente und Methoden auch für den Fernunterricht gut geeignet sind.

Screenshot der Videokonferenz

Claudia Kirchhoff (oben), Wiebke Auhagen (unten links) und Professor Ralf Benölken (unten rechts) im Videotelefonat.

DLR Projektträger

Frau Auhagen, Frau Kirchhoff, Herr Professor Benölken, für „Leistung macht Schule“ arbeiten Sie sehr eng zusammen. Welche sind Ihre gemeinsamen Ziele innerhalb des Projektes?

Auhagen: Wir beschäftigen uns mit der diagnosebasierten Förderung von leistungsstarken Kindern und Jugendlichen in der Mathematik. Dabei verfolgen wir von der Bergischen Universität Wuppertal und unsere 20 Partnerschulen vorrangig drei Ziele: Zum einen möchten wir die Kollegien dafür sensibilisieren, was eine mathematische Begabung überhaupt bedeutet. Zum anderen arbeiten wir daran, mathematisch leistungsstarke Kinder und Jugendliche besser zu erkennen. Weiterhin entwickeln wir Fördermaterialien, die das Potenzial der Schülerinnen und Schüler besonders herauskitzeln können.

Kirchhoff: Und unsere Schule, das Bildungszentrum Bodnegg, mischt dabei kräftig mit. Wir sind ein Verbund von Grundschule, Hauptschule, Realschule und Werkrealschule. Deshalb ist für uns eine Förderung für leistungsstarke, aber auch für leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler unheimlich wichtig. Viele Schulen konzentrieren sich noch zu oft auf die Förderung Leistungsschwacher. Abe wier viele Lehrkräfte fragen sich, wie unsere Schülerinnen und Schüler, die eine drei oder zwei in Mathe haben, noch besser werden können? Mit „Leistung macht Schule“ wird es für uns selbstverständlicher, auch die Guten im Blick zu behalten.

Wie gestalten Sie Ihre Projektarbeit, um diese Ziele zu erreichen?

Benölken: Einer unserer Schwerpunkte ist die Arbeit an offenen, substanziellen Aufgaben. Sie sind sehr offen formuliert und haben einen verblüffenden mathematischen Tiefgang. So bieten sie einen guten Zugang für alle Schülerinnen und Schüler und können auch gut im Regelunterricht eingesetzt werden. Für unseren Arbeitsprozess sind Schulbesuche ganz wichtig: Wir tauschen uns aus, vereinbaren Ziele und entwickeln gemeinsam Unterrichtsmaterial, das wir im Wechselspiel erproben und verbessern.

Auhagen: Die Zusammenarbeit ist mit jeder Schule sehr individuell: Wir fragen zunächst nach den Bedarfen und versuchen uns auf unsere Partnerschulen einzustellen, weil die Bedingungen vor Ort immer andere sind. Im Bildungszentrum Bodnegg sind mehrere Schulformen miteinander vereint, so dass die Lehrkräfte auf viele verschiedene Ausgangsvoraussetzungen reagieren müssen.

Kirchhoff: Um unsere Materialien und Förderinstrumente zu erproben, bieten wir an unserer Grundschule, sowie an der Haupt- und Realschule jeweils eine „Leistung macht Schule“-Stunde für besonders interessierte Kinder und Jugendliche an. Und wir merken schon jetzt: Sie finden die „Leistung macht Schule“-Stunden toll, weil sie das Gefühl haben, etwas Interessantes zu tun und gehört zu werden. Kürzlich kam die Frage auf: Wie viele Luftballons passen wohl bei uns in unseren Schulneubau? Da war aber etwas los! Die Kinder wollten das unbedingt beantworten und wurden dabei unglaublich kreativ. Das sind ganz tolle Impulse, die wertvolle Denkanstöße geben.

Auhagen: Dieses bunte Bild der Mathematik motiviert. Das eigene mathematische Konzept, das sich die Kinder und Jugendlichen dadurch erarbeiten, verstärkt das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Und das Schönste ist die Vielfalt an Ideen, die dabei entsteht. Damit können sich die Schülerinnen und Schüler gegenseitig unglaublich bereichern.

Inwiefern hat die Corona-Pandemie Ihre Zusammenarbeit verändert?

Auhagen: Zu Beginn der Pandemie waren die meisten unserer Projektschulen erst einmal mit sich selbst beschäftigt und haben sich gefragt, wie sie die Umorganisation des Schulalltags bewerkstelligen sollen. Wie mit „Leistung macht Schule“ weitergemacht werden könnte, war dabei zunächst zweitrangig. Dann haben aber alle schnell gemerkt, dass wir unsere erarbeiteten Strategien und Materialien für das Lernen auf Distanz besonders gut nutzen können.

Eine unserer Projektschulen hat sich zum Beispiel schlagartig und sehr tiefgreifend mit offenen, substanziellen Aufgaben beschäftigt und viele neue Aufgaben im engen Austausch mit uns konzipiert.

Eine andere Chance eröffnete sich für die Vernetzung der Schulen untereinander: Drei Gymnasien, die sich schon vor Corona unbedingt einmal treffen wollten, haben nun auf digitalem Wege sehr gut zueinander gefunden. Ich denke Corona hat insgesamt einen Impuls zur stärkeren digitalen Vernetzung gegeben und ich hoffe, dass dieser weiter fortbestehen wird.

Das heißt der Austausch mit den Schulen wurde durch Corona intensiver?

Benölken: Ja, die Begegnung auf digitalem Wege hat trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten eine ganz eigene Intensität mit sich gebracht: Manche Kontakte lassen sich seitdem noch kontinuierlicher realisieren, gerade mit Schulen, die geographisch weit entfernt liegen. Natürlich haben wir uns auch vorher schon intensiv miteinander befasst und Materialien für „Leistung macht Schule“ über die Cloud des Forschungsverbunds ausgetauscht. Allerdings sind Videokonferenzen, in denen man sich gegenseitig Rat gibt und dabei die Bildschirme freischaltet, für alle Beteiligten der weitaus persönlichere und direktere Weg. Natürlich ersetzen digitale Zusammenkünfte keine persönlichen Treffen, aber man ist trotzdem relativ nah am Geschehen.

Sind die „Leistung macht Schule“-Konzepte den Schülerinnen und Schülern beim selbstständigen Lernen eine Hilfe? Wie flexibel und anpassungsfähig sind sie?

Kirchhoff: Mit Corona haben wir unsere Online-Lernplattform an der Schule weiter ausgebaut. Darin hat jede Klasse ihren eigenen Raum, in dem die Lehrkraft entweder Fernunterricht halten, sich mit ihren Schülerinnen und Schülern treffen, oder Aufgaben weitergeben kann.

Auch unsere offenen, substanziellen Aufgaben kamen dabei zum Einsatz. Die meisten dieser Aufgaben wurden als Extra-Aufgabe an die ganze Klasse weitergegeben, obwohl sie auch als Aufgaben für einzelne Schülerinnen oder Schüler oder als Aufgabe für Kleingruppen hätten genutzt werden können. Allerdings kamen hierzu sehr viele Rückfragen seitens der Kinder und Jugendlichen. Oft konnten die Lehrkräfte dann nicht unmittelbar helfen, weil sie nicht zur gleichen Zeit wie ihre Schülerinnen und Schüler an den Rechnern saßen.

Insgesamt würde ich aber sagen, dass die offenen, substanziellen Aufgaben von „Leistung macht Schule“ ihren Teil dazu beigetragen haben, dass die Kinder auch in der Fernlernphase sinn- und gehaltvoll gelernt haben.

Benölken: Tatsächlich haben wir mit „Leistung macht Schule“ viel Material erarbeitet, das sich sehr gut für das Lernen auf Distanz eignet, weil es für Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Fähigkeiten funktioniert. Damit geben wir ihnen sozusagen den nötigen mathematischen Wumms an die Hand, mit dem alle motiviert arbeiten können. Allerdings müssen die Aufgaben auch digital gut funktionieren und dafür entsprechend angepasst werden.

Außerdem ist es wichtig, immer zeitnah mit den Schülerinnen und Schülern über die Aufgaben zu sprechen, nicht nur um Fragen zu klären, sondern auch um Kompetenzen wie Kommunikation und Argumentation zu fördern. Das alles auf Distanz anzubieten, ist im Schulalltag natürlich sehr schwierig. Aber genau dafür waren die Formate und die Organisation, die im Bildungszentrum Bodnegg gewählt wurden, sicher ein gutes Beispiel.

Und welche Rückmeldung haben die Schülerinnen und Schüler gegeben?

Kirchhoff: Sie fanden das Lernen auf Distanz eigentlich „ganz ok“, weil sie selbst entscheiden konnten, wie lange sie sich mit Mathe oder Deutsch beschäftigen wollten. Sie wurden nicht durch den Gong und das nächste Unterrichtsfach unterbrochen.

In den Prüfungsergebnissen spiegelt sich wider, dass unsere Schülerinnen und Schüler sich trotz der ungewohnten Lernsituation gut entwickelt haben: Viele haben einen guten Haupt-, Werkreal-, oder Realschulabschluss gemacht. Auch die Kinder, die jetzt in die fünfte Klasse kommen, sind gut vorbereitet. Allerdings wissen wir noch nicht, wieviel Nachholbedarf unsere Erstklässler im zweiten Schuljahr haben werden. Das Kollegium ist aber zuversichtlich, dass sich im Zweifelsfall alles nachholen lässt.

Welche besonderen Handlungsbedarfe haben sich mit der Krise (noch deutlicher) offenbart?

Kirchhoff: In unserer Region besteht dringender Handlungsbedarf in Bezug auf funktionierende Glasfasernetze, der aber noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Ansonsten würde ich sagen, dass der DigitalPakt Schule und das Sofortprogramm genau zum richtigen Zeitpunkt kamen und unserer Schule eine Hilfe waren. Zudem haben wir eine Spende von 5.000 Euro von einer Mutter bekommen. So konnten wir viele Tablets bestellen, die wir an Haushalte gegeben haben, in denen eine gute technische Ausstattung noch fehlte. Außerdem werden wir Laptop-Wagen und Tablet-Koffer anschaffen, die in jeder Klasse schnell und unkompliziert benutzt werden können. Wir wollen, dass die Digitalisierung stärker im normalen Schulalltag verankert wird und sie sich auch nach Corona noch normal anfühlt.

Gibt es bestimmte Handlungsstrategien, die Sie in der Pandemie entwickelt haben und unbedingt weiterempfehlen würden?

Kirchhoff: Ich empfehle eine gut gepflegte und funktionierende digitale Lernplattform und Videokonferenzen, die größere und kleinere Gruppen zusammenbringen können. Und ich zähle auf eine aktive und konstruktive Elternarbeit: Mit Corona hatten unsere Lehrkräfte so viele Elternkontakte wie noch nie. Im Normalbetrieb unterhält man sich außerhalb von Elternabenden eigentlich nur in besonderen Fällen mit den Eltern. Jetzt haben sich alle kontinuierlich miteinander ausgetauscht. So hatte niemand das Gefühl allein zu sein. Das war zwar sehr kräftezehrend für die Lehrkräfte, aber dieser Kontakt bringt uns alle – vor allem die Kinder – weiter. Deshalb sollte er in irgendeiner Form weiterbestehen. Schließlich teilen wir uns den Erziehungs- und Bildungsauftrag mit den Eltern.

Auhagen: An der Uni haben wir kurze Lernvideos, die auch für Schulen ein gutes Format sein können, in den Fokus gerückt und uns gefragt: Wie funktionieren Erklärvideos am besten? Welches Thema macht als Lernvideo überhaupt Sinn und wie sollte es aufgebaut sein? Dieses Format ist sicher zukunftsfähig und damit werden wir in Kürze auch auf die Lehrkräfte von „Leistung macht Schule“ zugehen.

Hat Corona Ihnen persönlich Erkenntnisse beschert, die Sie ohne nicht gehabt hätten und über die Sie sich besonders freuen?

Kirchhoff: Wir hatten eine enorme Hilfsbereitschaft im Kollegium. Einige haben zum Beispiel den Unterricht für ihre Fächer gemeinsam nochmal neu vorbereitet, damit er sich auch für den Fernunterricht eignete. Außerdem war es schön, dass wir mit Corona Zeit hatten, zum Beispiel unser Methodencurriculum fertigzustellen, das nun zum Einsatz kommt.

Benölken: Bei mir hat sich im Mai eine Lehrerin gemeldet, die ich von meiner Zeit als Juniorprofessor in Münster kenne. Wir hatten dort Lehr-Lern-Labore für Grundschulkinder organisiert, die Probleme damit hatten, Rechnen zu lernen. Sie fragte mich, ob wir das nicht wiederaufleben lassen wollen. Mit den neuen Erfahrungen haben wir schnell gemerkt: Mensch! Das geht ja trotz der geographisch bedingten Hürde. Das ist sogar eine tolle Möglichkeit für uns, das individuelle Lernen auf Distanz auf eine professionelle Art und Weise weiterzuentwickeln. Und das machen wir jetzt.

Die Initiative „Leistung macht Schule“ will Schule und Unterricht in Deutschland tiefgreifend verändern. Mit der Corona-Pandemie wird nun auch allgemein wieder intensiver über notwendige Reformen diskutiert. Welche Gedanken sind Ihnen während der Pandemie gekommen? Was würden Sie gern verändern?

Auhagen: Ich würde mich freuen, wenn uns das selbstregulierte Lernen auch nach Corona erhalten bliebe, so dass die Kinder und Jugendlichen weiterhin und noch viel stärker interessensorientiert arbeiten können, ohne von einem festgezurrten Stundenrhythmus und zu vielen Lehrplanvorgaben gestört zu werden. Wir sehen ja, dass uns genau das weiterbringt und Schule dadurch mehr Freude am Lernen wecken kann.

Benölken: Unsere Umwelt ist inzwischen größtenteils digital. Wir alle haben unmittelbaren Zugriff auf jegliches, publiziertes Wissen und brauchen mehr Kompetenzen, um damit umgehen zu können. Deshalb müssen wir uns ganz konkret überlegen, wie wir eine Brücke schlagen: Von der Bildung hin zur Lebensumwelt der beteiligten Personen und das auch im Mathematikunterricht. Es ist nicht damit getan, dass wir uns für den Moment Distanzlernangebote ausdenken, sondern wir müssen viel weiterdenken und uns fragen: Welche Hybrid-Modelle zwischen Distanz und Präsenz sind für die Zukunft angemessen? Mit welchen digitalen Formaten können wir Kindern und Jugendlichen welche mathematischen Themen besonders gut vermitteln? Da gibt es noch ganz, ganz viele ungelöste Fragen, denen wir uns stellen werden, auch mit „Leistung macht Schule“.

Frau Auhagen, Frau Kirchhoff, Herr Professor Benölken, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Claudia Kirchhoff

Seit 2014 ist Claudia Kirchhoff stellvertretende Schulleiterin am Bildungszentrum Bodnegg, einer Verbundschule mit Grundschule, Realschule, Hauptschule und Werkrealschule. Sie hat an der Universität Dortmund sowie an der Pädagogischen Hochschule Weingarten die Fächer Deutsch und Sachunterricht studiert. Am Bildungszentrum Bodnegg setzt sie sich unter anderem für die gleichberechtigte Förderung von leistungsschwachen sowie (potenziell) leistungsstarken Kindern und Jugendlichen ein. Darin sieht sie einen enormen Wert für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung.

Professor Ralf Benölken

Der Mathematiker Ralf Benölken leitet seit 2018 den Lehrstuhl für Mathematikdidaktik an der Bergischen Universität Wuppertal. In seinen Forschungen beschäftigt er sich mit mathematischer Begabung, inklusivem Mathematikunterricht sowie mit Genderfragen in der Mathematik. Ralf Benölken betreut die Lehr-Lern-Labore „Think!“ (Förderung mathematisch Talentierter) und „Mathletics“ (Mathematisches Lernen durch Bewegung).

Wiebke Auhagen

Ihren Master of Education für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen hat Wiebke Auhagen in den Fachrichtungen Mathematik und Physik an der Bergischen Universität Wuppertal erhalten. Sie war Vertretungslehrerin an einem Wuppertaler Gymnasium und ist seit 2019 Dozentin an der Junior-Uni Wuppertal. Außerdem leitet Wiebke Auhagen diverse Fördergruppen im Lehr-Lern-Labor „Think!“. Für „Leistung macht Schule“ betreut sie das Projekt zur Entwicklung adaptiver Konzepte für eine diagnosebasierte Förderung von potenziell Leistungsstarken im Mathematikunterricht und verfasst in diesem Rahmen ihre Doktorarbeit.