Im Eins-zu-eins-Mentoring nehmen Lehrkräfte Schulkinder ganzheitlich wahr und fördern ihre Stärken

Beratungslehrerin Julia Haug begleitet Kinder und Jugendliche in unterschiedlichsten Lebenslagen und optimiert bestehende Mentoring-Angebote an der John Bühler Realschule in Dornhan (BW).

Lehrerin Haug im Gespräch mit einer Schülerin

Ein Gespräch über persönliche Ziele und Entwicklungsmöglichkeiten mit Julia Haug.

Julia Haug

Leistung-macht-Schule.de: Warum werden Schülerinnen und Schüler in einem Mentoring-Programm an Ihrer Schule individuell beraten und begleitet?

Durch den Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung in Baden-Württemberg entscheiden Familien jetzt allein, auf welche weiterführende Schule ihre Kinder gehen und welchen Abschluss sie anstreben. Kinder der fünften und sechsten Klasse sind jedoch in einer Orientierungsphase ihres Lebens, in der wir sie begleiten müssen. Für Familien sind oft die anzusteuernden Abschlüsse ein erster Gesprächsanlass. Darüber hinaus hilft es Kindern immer, sozusagen in jeder Lebenslage, mit einer Mentorin oder einem Mentor gemeinsam zu schauen, was sie gut können und festzustellen, wo ihre Entwicklungsfelder liegen.

Was kann sich durch ein Mentoring verbessern?

Das kommt ganz darauf an, was sich die Schülerinnen und Schüler vornehmen. Durch unser Mentoring werden sie in all ihren Kompetenzbereichen abgebildet. Wir betrachten nicht nur die klassischen Schulfächer, in denen sie gut oder schlecht sind, sondern auch ihre Neigungen. Wir nehmen soziale, persönliche und methodische Bereiche in Augenschein.

In einem Mentoring-Prozess kann eine Schülerin oder ein Schüler zum Beispiel dabei begleitet werden, zu lernen, vor der Klasse zu stehen und zu sprechen. Oder wir helfen den Kindern, ihre bereits erlernten Strategien auf unterschiedliche Fachbereiche zu übertragen: Engagierte Turnerinnen an unserer Schule zum Beispiel wissen, dass sie dreimal in der Woche trainieren müssen, wenn sie beim nächsten Wettkampf gut abschneiden möchten. Dieselben Mädchen ärgern sich aber über schlechte Klassenarbeiten, für die sie nur einen Tag gelernt haben. Fragt man sie: „Und wieso bist du so gut im Sport?“ „Na, da hab ich doch trainiert!“ „Ahaaa!“ Solche Gesprächsmomente sind oft für alle Beteiligten sehr erhellend und bringen einen Stein ins Rollen.

Wie reagieren (potenziell) Leistungsstarke auf eine intensive Begleitung?

Sehr positiv, weil sie sich gesehen fühlen. Leistungsstarke können sich mit einer fachlich versierten Mentorin oder einem Mentor intensiv mit einem bestimmten Fachthema auseinanderzusetzen, für das im Regelunterricht keine Zeit bleibt. Manche Kinder nutzen das Mentoring aber auch zur Weiterentwicklung ihrer sozialen und methodischen Kompetenzen.

Ich habe einmal zwei Schülerinnen unabhängig voneinander beraten, aber ihre Anliegen wurden im Lösungsweg zu einer gemeinsamen Geschichte: Eine leistungsschwache Schülerin wollte sich gern verbessern. Hinzu kam eine auf vielen Ebenen leistungsstarke Schülerin. Mit ihr habe ich überlegt, was sie an unserer Schule noch reizen könnte. Schließlich habe ich sie gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, eine leistungsschwächere Mitschülerin zu unterstützen. Das war eine Ausnahme, weil bei uns Schülermentorings eigentlich kein Angebot sind. Aber die leuchtenden Augen bei ihrer Antwort werde ich nie vergessen! „Frau Haug, ich habe jetzt gerade Gänsehaut, ich finde es so schön, dass jemand sieht, dass ich sowas gut kann.“ Meine Schülerin hat sich ganz besonders über ihre Mitschülerin gefreut, die mit ihr zusammen und von ihr lernen wollte. So hat die Leistungsstarke der Leistungsschwächeren in gemeinsamen Freistunden ganz bestimmte Lernstrategien beigebracht, wodurch sich letztere schulisch deutlich verbessert hat. Und die leistungsstarke Schülerin ist – nach eigenem Urteil – an der Herausforderung gewachsen.

Sie haben als Schule bereits seit fünf Jahren Erfahrung mit Mentoring-Programmen. Wie haben Sie sich auf Ihre aktuellen Mentoring-Strategien vorbereitet? Was hat sich im Laufe der Jahre verändert?

Durch das Mentoring-Projekt von „Leistung macht Schule“ haben wir – vor allem im Dialog mit den Forschenden an der Uni Regensburg – erkannt, dass wir kleinschrittiger vorgehen müssen. Wir dürfen nicht zu viele Ziele auf einmal ansteuern. Und die Fortschritte müssen auch für das Kind nachvollziehbar sein. Es muss erkennen können, wann und warum etwas funktioniert, oder warum eben nicht. So können die Beratungskinder den Prozess besser mitgestalten.

Sehr hilfreich waren für uns die Netzwerktreffen des Mentoring-Projektes, die von den Universitäten Regensburg und Erlangen-Nürnberg organisiert wurden. Dort haben wir uns gemeinsam mit den Forschenden intensiv mit dem Thema Mentoring auseinandergesetzt und uns auch mit anderen Schulen ausgetauscht. Die gemeinsame Ideenentwicklung war ein sehr kreativer Prozess: Zusammen sind wir auf Dinge gekommen, an die wir allein nie gedacht hätten. Es war toll von anderen Konzepten zu hören und zu bemerken, wo andere die Knackpunkte und Schwierigkeiten an unseren Konzepten sehen. Das war sehr wertschätzend und gewinnbringend.

Innerhalb des Mentoring-Projektes haben wir inzwischen auch ein eigenes Netzwerk für Ideen- und Materialaustausch gewoben. Gerade die Schule, die geografisch am weitesten von uns entfernt liegt, ist die, die uns inhaltlich am nächsten steht: Die Gesamtschule Gescher am nordwestlichen Rand von Nordrhein-Westfalen. Sowohl die Lehrkräfte als auch die Inhalte haben einfach zusammengepasst. Wir drehen an den gleichen Stellschrauben und uns beschäftigen dieselben Fragen.

Über „Leistung macht Schule“ hinaus hatte unser gesamtes Kollegium eine intensive Coaching-Fortbildung. Dabei haben wir gelernt, wie man eine gute Beziehung zu den Kindern aufbaut, was ganz elementar ist. Und wir haben unsere Dokumentationen auf das Notwendige beschränkt.

Wie setzen Sie Mentoring-Programme an Ihrer Schule um?

Bei uns dürfen sowohl Klassenlehrerinnen und -lehrer als auch andere Lehrkräfte, die in der jeweiligen Klasse unterrichten, Mentorinnen und Mentoren werden. Natürlich wäre es toll, wenn die zu beratenden Kinder und Jugendlichen mit dem frischen Blick einer Lehrkraft beraten würden, die sonst gar nicht in der Klasse unterrichtet. Damit nähme man aber den Lehrkräften, die viel Zeit in der Klasse verbringen, die Möglichkeit, ihre Schülerinnen und Schüler besser kennenzulernen. Unsere Beratungskinder wählen deshalb zwischen ihrer Klassenlehrerin beziehungsweise ihrem Klassenlehrer und einer bereits aus dem Unterricht bekannten Lehrkraft.

Wichtig ist, dass die Schülerinnen und Schüler selbst entscheiden, von wem sie beraten werden möchten, denn nicht jede Mentorin oder jeder Mentor ist gleich gut für jedes Kind geeignet. Sollten die Beratungskinder merken, dass ihre erste Wahl nicht passend war, können sie ihre Mentorin oder ihren Mentor auch wechseln.

Auch den Zeitpunkt für eine Beratung wählen die Kinder bei uns selbst, weil ja nicht jede Schülerin und jeder Schüler zu jeder Zeit offen ist für eine Beratung. Bei Bedarf ziehen sie einfach ein Beratungsticket.

Würden Sie sagen, dass die Chemie zwischen Lehrkraft und Beratungskind eine wichtige Gelingensbedingung für ein Mentoring ist?

Ich vermute sie ist das A und O. Die Chemie und ein gelungener Beziehungsaufbau. Es ist wichtig, ein Kind dort abzuholen, wo es gerade steht und einen gemeinsamen Weg abzustimmen. Und es ist ein riesiger Gewinn für die Kinder, wenn sie sich außerhalb des fachlichen Unterrichts einmal mit jemandem über die Themen austauschen können, die sie bewegen.

Wie läuft ein Eins-zu-eins-Mentoring genau ab?

Meistens kommen die Schülerinnen und Schüler mit ganz konkreten Anliegen zu uns. Das können ganz einfache Dinge sein, wie: „Ich lerne ständig Vokabeln und schreibe trotzdem immer schlechte Noten.“ Hierfür können schnell Lösungen gefunden werden, wenn Lehrkraft und Schulkind im Gespräch herausfinden, wie es lernt. Es gibt aber auch komplexere Themen: „Ich werde hier in der Klasse gemobbt und ich fühle mich überhaupt nicht wohl.“ Das sind Probleme, die Kinder und Jugendliche ganz arg belasten. Aber auch hierfür gibt es inner- und außerschulische Lösungswege.

Momentan arbeite ich mit einem Kind, das gerne auf das Gymnasium gehen möchte, aber in einem Fach nicht gut ist. Nun schauen wir ein halbes Jahr lang darauf, was es fachlich und persönlich braucht, um weiterzukommen. Wir schätzen dann gemeinsam ein, ob sein Ziel realistisch ist oder nicht und ob es seine Ressourcen dafür freisetzen kann. Manchmal werden Kräfte ja auch im privaten Umfeld gebündelt, zum Beispiel bei Krankheits- oder Trauerfällen.

Zu beiden Schulhalbjahren führen wir Entwicklungsgespräche mit unseren Beratungskindern. Es geht es darum, ihnen ein möglichst vollständiges Bild ihrer Kompetenzen zu zeichnen und sie zu ermutigen, ihre Stärken und Ressourcen gewinnbringend einzusetzen. Im Gespräch werden auch Einschätzungen von Mitschülerinnen und Mitschülern über das Beratungskind besprochen. Diese Rückmeldungen gehen den Kindern immer sehr nahe und können sie enorm stärken. Aber wir sprechen natürlich auch zwischendurch mit unseren Beratungskindern – auf dem Schulhof oder auf dem Flur. Das stärkt die Beziehung und liegt zeitlich oft näher an den Themen, die die Kinder bewegen.

Wie strukturieren Sie und Ihr Kollegium sich in der täglichen Zusammenarbeit?

In diesem Jahr holen wir die Schülerinnen und Schüler, die ein Ticket gezogen haben, noch aus dem Fachunterricht heraus. Für das kommende Jahr soll es aber möglich sein, die Gespräche in die ohnehin im Stundenplan entstehenden Freistunden zu legen.

Um den Überblick über den Mentoring-Prozess zu behalten, haben wir Ordner für die Beratungskinder angelegt. Das ist für uns eine Art „Personalbogen“ und „Prozessheft“, in dem wir notieren, in welcher Lebenssituation das Kind steckt, ob es Geschwister hat, was es gerne macht und alles, was dazu dient, das Kind kennenzulernen und ganzheitlich abzubilden. So können wir Ressourcen aufspüren. Anhand einer „Rückmeldungs“-Liste können alle Beteiligten unabhängig von der Anwesenheit bestimmter Personen sehen, wo das Kind gerade steht.

Am Ende des Schuljahres evaluieren wir unsere Mentoring-Prozesse und fragen uns, wo wir nachbessern müssen. Im vergangenen Jahr hat uns die Uni Regensburg dabei unterstützt. Gemeinsam haben wir unsere Mentoring-Abläufe kritisch beleuchtet und zum Beispiel die Beratungszeiträume vergrößert.

Was können die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Uni von einer Zusammenarbeit mit Ihrer Schule lernen?

Am ehesten von unserer Erfahrung. Wir hatten ja schon ein Mentoring-Leben vor „Leistung macht Schule“ und wir haben schon Methoden aussortieren können, die nicht so gut waren. Vielleicht können die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei uns auch ihren Blickwinkel ausweiten: Auf einer Realschule ist es wichtig, nicht nur Leistungsstarke zu fördern, sondern alle Kinder auf ihrem Weg individuell zu begleiten. Frau Emmerdinger von der Uni Regensburg hat uns diesbezüglich sehr passgenau und ganzheitlich beraten.

Warum sind Sie Mentorin geworden?

Weil ich sehe, dass unsere Kinder in diesem Bildungssystem nicht ganzheitlich gefördert werden. Mich macht es traurig, wenn ich nichts über die 25 bis 30 Kinder in meiner Klasse weiß. Ich möchte sie nicht bloß in einem ihrer Fächer begleiten, sondern auch als Menschen an unserer Schule, mit allem was sie von sich aus mitbringen.

Frau Haug, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Julia Haug

In Freudenstadt (Schwarzwald) geboren hat Julia Haug an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg Biologie, Deutsch und Evangelische Theologie für das Lehramt an Realschulen studiert. Das positive Verhältnis zu ihrer eigenen Schulzeit hat sie nachdrücklich in dem Wunsch bestärkt, Realschullehrerin zu werden. Sie ist als Beratungslehrerein und Fachberaterin für Schulentwicklung ausgebildet und Mutter eines dreijährigen Sohnes. An der John-Bühler-Realschule unterrichtet sie seit 11 Jahren. Die Schule mit dem Motto „Sich wohlfühlen und etwas leisten“ arbeitet seit 2018 mit einem ganzen Team von freiwilligen Beratungslehrkräften mit der Uni Regensburg im Teilprojekt „Optimierung bestehender Mentoring Programme“ zusammen.