Im Fach Englisch zeigen Lernende ihr ganzes Können

Professor Wolfgang Hallet von der Justus-Liebig-Universität Gießen spricht über komplexe Aufgabenstellungen. Sie helfen Lehrkräften dabei, (potenziell) leistungsstarke Schülerinnen und Schüler zu erkennen.

Professor Hallet im Gespräch

Professor Wolfgang Hallet im Gespräch auf einer Fachtagung von „Leistung macht Schule“.

BMBF / Dennis Krischker

Leistung-macht-Schule.de: Herr Professor Hallet, Sie sind davon überzeugt, dass komplexe Aufgabenstellungen im Englischunterricht dabei helfen können, leistungsfähige Schülerinnen und Schüler zu erkennen und zu fördern. Wie geht das?

Im Unterricht gibt es sehr viele verschiedenartige Aufgabentypen, wie zum Beispiel stark geführte Lückentexte oder halboffene Aufgaben, die zumeist ganz bestimmte Antworten erwarten lassen. Solche Aufgaben verhindern aber eine individuelle Herangehensweise seitens der Schülerinnen und Schüler, weil die Lehrperson vorgibt, welche kognitiven und sprachlichen Potenziale aktiviert werden müssen.

Dagegen stellen wir das Konzept der komplexen Kompetenzaufgabe: Ausgehend von einer besonderen Herausforderung ermöglicht sie den Kindern und Jugendlichen, ihr individuelles Wissen und ihre Ressourcen zu aktivieren. So wenden sie Lösungen an, die ihnen selbst für die Bearbeitung wichtig erscheinen. Sie bringen alle nur erdenklichen und verfügbaren kognitiven Potenziale und sprachlichen Fähigkeiten ein, die daraufhin erst von den Lehrkräften erkannt werden können. Im Prinzip handelt es sich bei komplexen Aufgaben um offene Problemlösungsaufgaben, die aber sehr wohl strukturiert sind.

Können Sie ein Beispiel für eine komplexe Englischaufgabe nennen?

Ein im Fremdsprachenunterricht geläufiges Beispiel ist das Verfassen einer politischen Rede. Sie muss zu einem bestimmten Sachverhalt Stellung nehmen und eine Meinung kundtun. Das sieht zwar einfach aus, aber dahinter steckt eine gewaltige Herausforderung: Die Verfasserinnen und Verfasser der Reden müssen sich nämlich im angesprochenen Themenbereich gut auskennen und eine gewisse kulturelle Kenntnis mitbringen. Sie müssen einschätzen können, welches Hintergrundwissen sie bei ihrem Publikum voraussetzen können.

Und dann gibt es natürlich viele verschiedene Wege zu einer Rede: In ihrer Komplexität, in ihrer Differenziertheit, in ihrer Struktur, in der Abfolge der Argumente und in der sprachlichen Präzision sieht sie bei jeder Schülerin und jedem Schüler unterschiedlich aus. So zeigen die Kinder und Jugendlichen sehr frei, was sie können, über welche eigenen Erfahrungen sie verfügen und wie sie ihr Wissen recherchiert haben.

Ein besonders schönes Beispiel für eine wirklich gelungene Rede in englischer Sprache ist Barack Obamas Health Care Speech, die er als Präsident der Vereinigten Staaten 2009 vor dem amerikanischen Kongress hielt und die den Schülerinnen und Schülern als Modelltext dienen kann. Obama ist ein exzellenter Rhetoriker und ein extrem gebildeter Mensch, der sich im Gesundheitsbereich bestens auskennt. Wenn nun Schülerinnen und Schüler zu diesem Thema eine überzeugende Rede verfassen möchten, müssen sie natürlich sehr viel über das Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten, aber auch über die Einstellungen der Menschen, die in dem Land leben, und über die vorherrschende Staatsphilosophie wissen. Nur so verstehen sie, warum sie überhaupt und vor allem wogegen sie argumentieren müssen.

Solche Aufgabenstellungen werden doch bereits im Englischunterricht genutzt, oder?

In der Tat kommt dieser Aufgabenansatz nicht aus dem Nichts, er hat in der Englischdidaktik schon eine sehr lange Tradition. Dieser task approach hat jedoch bestimmte Tücken. Deshalb habe ich versucht, ihn weiterzuentwickeln.

Stellt man die Aufgaben nämlich zu offen und zu unstrukturiert, lässt man die Schülerinnen und Schüler im Prinzip allein. Das ist besonders für schwächere Kinder und Jugendliche problematisch, weil sie oft Anleitungen oder Strukturierungshilfen brauchen. Eine sehr komplexe, unstrukturierte Aufgabe, die man früher oft beobachten konnte, ist: „Search the internet“. Damit sind zwar eine Absicht und ein Ziel verknüpft, aber eine derart offene Formulierung dürfte man eigentlich gar nicht verwenden. Heute machen Lehrkräfte klare thematische Vorgaben und steuern zum Beispiel nur bestimmte Webadressen an.

Der von mir weiterentwickelte Aufgabenansatz hilft den Lehrkräften über ein einfaches Modell bei ihrer systematischen Aufgabenentwicklung. Dafür ist nicht nur die klare Benennung des Themas wichtig, sondern auch die Überlegung, welche Formate und welche sprachlichen Mittel für die Bearbeitung der Aufgabe eine Rolle spielen. Weiterhin ist es sinnvoll, die Aufgaben vom Ziel ausgehend zu entwickeln. Denn erst wenn mir klar ist, was am Ende der Bearbeitung herauskommen soll, weiß ich, was genau in die Aufgabenstellung Eingang finden muss.

Sie werden die komplexen Aufgaben gemeinsam mit den Lehrkräften der beteiligten Schulen entwickeln. Wie machen Sie das?

Ganz zu Anfang fragte uns einmal eine Kollegin, wann wir ihr denn nun die Aufgaben zuschicken würden, die sie mit ihren Lerngruppen bearbeiten soll. Daraufhin haben wir uns grundlegend über die eigentliche Idee unseres Projektes verständigt. Denn wir wollen nicht bloß irgendwelche Aufgaben für irgendwen entwickeln, sondern sehr konkrete für sehr individuelle Zielgruppen. Die Lehrkräfte sollen ihre Schülerinnen und Schüler idealerweise schon bei der Unterrichtsvorbereitung vor sich sehen. Ein Ziel des Projektes ist es also, auch im Sinne der Unterrichtsentwicklung und der Professionalisierung, zusammen mit den Lehrerinnen und Lehrern die Aufgaben für ihre Lerngruppen zu entwickeln. Denn nur diese selbst können entscheiden, was für die Lernenden eine Herausforderung darstellt, und absehen, womit sie eventuell unter- oder überfordert sein könnten. Erst daraufhin kann flexibel an der „Herausforderungsschraube“ gedreht werden, bis alles passt.

Was geschieht in der derzeitigen Projektarbeit? Besuchen Sie die Schulen persönlich?

Ja, mein Mitarbeiter und ich absolvieren zu Beginn insgesamt zwei Besuche an allen Schulen. Bei dem ersten stellen wir das Aufgabenmodell und das Aufgabenkonzept vor und diskutieren darüber. Es ist sehr wichtig, dass die Philosophie verstanden wird. Intuitiv sagen viele Lehrkräfte natürlich: „Das haben wir doch schon immer so gemacht!“. Das stimmt zwar, aber die Frage ist, welche Art von Aufgaben sie mit welchen Unterstützungsangeboten stellen.

Bei unserem zweiten Besuch veranstalten wir mit der jeweiligen Englisch-Fachschaft Workshops. Wir setzen uns zusammen, um für ganz bestimmte Jahrgangsstufen und Klassen ein relevantes Thema und ein Aufgabenprodukt auszuwählen und um dafür alle relevanten Materialien zusammenzustellen. Außerdem überlegen wir, wie wir den Kindern und Jugendlichen die Bearbeitung der Aufgaben optimal erklären können. So arbeiten wir lerngruppenbezogen und adaptiv. Das ist der wesentlichste Unterschied zum Lehrwerk!

Wichtig ist: Bei diesem Vorgehen geht es uns nicht allein um die Förderung von leistungsstarken und leistungsfähigen Schülerinnen und Schülern. Wir erhoffen uns davon eine andere Form von Unterricht, die man erst einmal erlernen muss, weil man dafür loslassen muss. Die Lehrkräfte geben den Kindern und Jugendlichen künftig viel mehr Raum, damit sie selbstständig – ob allein, im Tandem oder in der Gruppe – arbeiten können. Die Lehrkraft wird zum Begleiter, gibt punktuelle Unterstützung und interveniert, wenn nötig. Aber im Prinzip geht die Verantwortung für die Bearbeitung der Aufgaben auf die Schülerinnen und Schüler über.

Lernende und Lehrende, die andere Arbeitsmethoden kennen, werden darüber anfangs womöglich etwas erstaunt sein.

Ja, das vermuten wir auch. Toll ist aber, dass die Schulen selbst eine Entwicklung herbeiführen wollen. Wir müssen also niemanden überzeugen. Im Gegenteil gibt es eine ganz klare Erwartungshaltung der Lehrerinnen und Lehrer an unser gemeinsames Projekt. Sie erhoffen sich mehr Aufgaben- und Materialentwicklungskompetenz und wir hoffen auf einen höheren Grad an didaktischer Eigenständigkeit. Wir wünschen uns, dass die Lehrkräfte aus dem Lehrwerk nur das Nötigste herausholen und ansonsten sagen: „Den Rest mach ich lieber allein“. Diese Autonomie ist wirklich ganz wichtig gegenüber allem, was den Unterricht sonst so bestimmt.

Würden Sie sagen, dass innerhalb der Initiative eine „Aufbruchsstimmung“ herrscht?

Verallgemeinerungen sind immer schwierig, aber ja, das würde ich schon sagen. Bei unserem ersten Treffen mit den Schulvertretern auf dem Bildungskongress in Münster 2018 hat mich am meisten überrascht, dass die Schulen durch die Bank sehr hohe Erwartungen und eine wohldurchdachte eigene Philosophie hatten. Viele sind sehr enthusiastisch und engagiert in das Projekt eingestiegen und wissen genau, was sie davon erwarten können. In manchen Schulen kommen sogar ganze Kollegien zu unseren Workshops dazu, obwohl wir ja eigentlich nur das Fach Englisch abdecken.

Sehen Sie auf diesem sehr positiven Weg auch Herausforderungen auf sich zukommen?

Ich sehe vor allem Potenziale! In unserem Projekt betreuen wir nämlich ganz verschiedene Schularten: von der Hörgeschädigtenschule über das Spitzengymnasium bis hin zur klassischen Berufsschule. Das ist sehr schön, weil wir unseren Ansatz wirklich in der Breite ausprobieren können, um Potenziale von Schülerinnen und Schülern zu fördern. Natürlich resultieren aus den alltäglichen Schulabläufen so manche Fragen, die aber völlig berechtigt sind, und für die man im Austausch mit den Lehrkräften Lösungen finden kann.

Herr Professor Hallet, Sie betreiben einen eigenen Blog, über den Sie Sprachlernprozesse dokumentieren und kommentieren. Was motiviert Sie dazu und welche Dialoge sind daraus bereits entstanden?

Mein Blog ist noch sehr jung, also erst ein Jahr alt. Und ich ärgere mich furchtbar darüber, dass ich erst so spät damit begonnen habe, denn das ist ein ganz tolles Instrument! Bei wissenschaftlichen Publikationen hat man ja leider immer sehr lange Vorläufe und es gibt gar keine passenden Formate, zum Beispiel für Erfahrungsberichte von einem Kongress, oder für persönliche Eindrücke. In einem Fachbeitrag spricht man eben nicht über Enthusiasmus und ähnliche Dinge.

Dabei gibt es viele wichtige Fragestellungen und kontroverse Diskussionen, die es wert wären, veröffentlicht zu werden. Ich merke immer wieder, dass Kolleginnen und Kollegen oder Studierende ihre Meinung zu bestimmten Themen äußern möchten. Sie werden dann Gastautorinnen und -autoren in meinem Blog. Auch hier ist – wenn Sie so wollen – die Förderung von Leistungsstärke bei Studierenden möglich, denn durch die Beiträge treten Potenziale an die Oberfläche, die sonst unerkannt bleiben würden.

Herr Professor Hallet, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Professor Dr. Wolfgang Hallet

An der Justus-Liebig-Universität Gießen ist Wolfgang Hallet Professor für die Didaktik der englischen Sprache, Literatur und Kultur. Seine Forschungsschwerpunkte sind die anglophone Literatur-, Film- und Kulturdidaktik und die Visualisierung des geschriebenen Wortes in Romanen (multimodale Romane). Er beschäftigt sich mit literaturbezogener Methodenlehre, dem Bilingualen Unterricht und mit Kompetenzaufgaben. Wolfgang Hallet unterrichtete als Gymnasiallehrer Englisch und Deutsch in Rheinland-Pfalz und leitete das bilinguale Auguste-Viktoria-Gymnasium in Trier. Von 2006 bis 2017 war er Mitglied im Vorstand des in der der Exzellenzinitiative geförderten International Graduate Centre for the Study of Culture. Seit 2013 ist er Vorsitzender des Beirats des Bundeswettbewerbs Fremdsprachen. Für „Leistung macht Schule“ leitet Wolfgang Hallet das Projekt Englisch.

Weiterführende Informationen zu komplexen Aufgaben finden Sie in Hallet‘s English Learning Log und auf youtube.com.