Lehrkräfte arbeiten im Team – mit dem Lesson-Study-Konzept

Professorin Miriam Vock und Doktorin Anne Jurczok von der Universität Potsdam erarbeiten Methoden, mit denen Lehrkräfte ihren Unterricht gemeinsam weiterentwickeln können. So werden Kinder und Jugendliche individueller gefördert und Lehrende entlastet.

Foto des Teams

Das Projektteam an der Uni Potsdam (v. l. n. r.): Nicole Zaruba, Dr. Anne Jurczok, Prof. Dr. Miriam Vock und Eva Kalinowski.

Thomas Roese

Leistung-macht-Schule.de: Frau Professorin Vock, mit Ihren Projektschulen wenden Sie das sogenannte Lesson-Study-Konzept an. Was ist das?

Vock: Lesson-Study ist eine Methode, mit der wir unsere Schulen und unseren Unterricht weiterentwickeln können. Sie wurde ursprünglich in Japan erarbeitet und ist dort seit längerer Zeit verbreitet. Über die USA ist sie nach Europa gekommen. Uns hat das Gesamtpaket überzeugt. Denn Lesson-Study ist eine ganz tolle Kombination von verschiedenen Methoden, die man hier auch schon kennt. Das Konzept besteht darin, dass sich Lehrkräfte in kleinen Teams von vier bis fünf Personen zusammensetzen und den Unterricht für ihre Klassen gemeinsam vorbereiten, ihn durchführen und dabei gegenseitig hospitieren. Danach trifft sich die Gruppe zur kritischen Auswertung und beurteilt, wie gut das didaktische Konzept aufgegangen ist.

Jurczok: Das Lehrkräfte-Team überprüft außerdem, wie die Lernziele, die sie sich für den Unterricht überlegt haben, von ihren Schülerinnen und Schülern aufgenommen und umgesetzt werden. Bei Lesson-Study stehen daher die Kinder und ihr Lernprozess im Fokus. Das ist ein wichtiger Unterschied zu anderen Hospitationsmethoden. Es geht also keineswegs um den Unterrichtsstil der Lehrenden, wie Lehrerinnen und Lehrer das vielleicht noch aus ihrer Referendariatszeit kennen.

Vock: Und es ist eine Methode, bei der die Lehrkräfte zwar zunächst Unterstützung bekommen, sich aber dann immer selbständiger im Kollegium fortbilden. Sie überlegen sich gemeinsam: Was ist bei uns in der Schule eine brennende Frage? Wo möchten wir uns im Unterricht gern weiterentwickeln? Sie machen sich selbst schlau, tauschen sich aus und verändern daraufhin ihren Unterricht.

Welche Auswirkungen erhoffen Sie sich davon langfristig, vor allem in Bezug auf potenziell leistungsfähige und leistungsstarke Schülerinnen und Schüler?

Vock: Wir denken, dass diese Methode den Unterricht im Hinblick auf die Förderung von Leistungsstarken und potenziell Leistungsfähigen verbessern kann. Es ist unsere Grundüberzeugung, dass für Kinder in einer heterogenen Grundschulklasse der Unterricht auf jeden Fall differenziert werden muss. Im gleichen Tempo mit dem gleichem Programm funktioniert das nicht. Sonst fallen die Leistungsstarken und die Schnelleren hinten runter.

Differenzierten Unterricht zu gestalten, ist aber etwas arbeitsaufwendiger für einzelne Lehrkräfte. Sie müssen den Lernstand ihrer Schülerinnen und Schüler gut kennen und gezielt individuelle Lernangebote zur Verfügung stellen. Im Lesson-Study-Prozess können entsprechende Überlegungen und passende Umsetzungsideen kooperativ erprobt und gute Erkenntnisse für den künftigen Unterricht gesammelt werden.

Wir verstehen unsere Schulen als Pilotschulen, an denen ausprobiert und entwickelt wird. Wir wollen in der Projektlaufzeit zu gesicherten Erkenntnissen kommen und wissenschaftlich überprüfen, wie gut die Lesson-Study-Methode tatsächlich funktioniert und was die Gelingensbedingungen dafür sind.

Ist es einfach, das Lesson-Study-Konzept an den Schulen umsetzen?

Vock: Für Lehrkräfte ist es sehr anspruchsvoll und herausfordernd. Es kostet viel Zeit und Mühe, den Unterricht gemeinsam vorzubereiten, auch wenn viele Grundschulen das schon tun. Aber wir versprechen uns von Lesson-Study, dass die Lehrkräfte durch die kollegiale Unterstützung eine Erleichterung bei ihrer Arbeit empfinden. Tatsächlich machen sie die Erfahrung, dass sie nicht mehr allein vor großen Aufgaben stehen. Sie arbeiten mit ihren Kolleginnen und Kollegen zusammen und schaffen es, den Unterricht individueller zu gestalten und ihre guten Ideen auszutauschen.

Jurczok: Wir erleben, dass gerade die Zusammenarbeit als unglaublich entlastend empfunden wird. Der Lehrerberuf ist ja nicht nur mit einem hohen Stundendeputat, sondern auch mit ungewöhnlich vielfältigen Anforderungen verbunden. Lehrkräfte sollten deshalb Entlastung bei ihrer Arbeit erfahren. Sie sollten nicht mehr allein sein, wenn zum Beispiel das eigene Unterrichtskonzept nicht aufgeht. Das kann gerade mit leistungsstarken Kindern schnell passieren: Wenn etwa die leistungsstarke Schülerin – anders als erwartet – auf einmal nicht mehr aktiv im Unterricht mitmacht. Oder wenn der gute Schüler mit der eigentlich anspruchsvollen Aufgabe viel zu schnell fertig ist. Aber auch die Beurteilung einer Antwort, die auf versteckte Potenziale eines Kindes schließen lässt, kann im Team treffender ausfallen als allein. Diese Chance möchten wir nutzen, um langfristig ein leistungsförderliches Schulklima zu schaffen.

Vock: Es gibt heutzutage kaum einen anspruchsvollen modernen Beruf, in dem nicht auch zeitweise im Team gearbeitet wird. Und gerade in den sozialen Berufen außerhalb des Lehramtes ist es eigentlich üblich, dass man sich in Gruppen austauscht und sich gegenseitig über Probleme berät. Es ist dringend nötig, dass das auch im Lehrerberuf möglich wird. Solche intensiven Kooperationszeiten müssen natürlich in der Stundenplanung berücksichtigt werden.

Jurczok: Die Rahmenbedingungen dafür müssen allerdings oft erst noch geschaffen werden; auch wenn es manchmal schon Hospitationspläne gibt, auf die wir aufbauen können.

Wieviel Begleitung ist von Ihrer Seite aus notwendig?

Jurczok: Wir arbeiten mit hochmotivierten Lehrkräften zusammen, die miteinander kooperieren wollen und große Lust haben, etwas Neues auszuprobieren. Pro Schule sind es meist zwischen vier und sieben Lehrerinnen und Lehrer, die mit uns Fortbildungen machen. Dabei finden sie sehr schnell ihre eigenen Fragestellungen. Ausgehend davon wird zunächst der Unterricht mit unserer Unterstützung geplant. Aber auch bei den Unterrichtsstunden selbst und bei deren Auswertung unterstützen wir als Wissenschaftsteam mit unserem speziellen Blickwinkel.

Und in welchen Formaten unterstützen Sie?

Jurczok: Wir besuchen die Schulen regelmäßig und tauschen uns aus. Aufgrund der Größe des Projektes versuchen wir zusätzlich, mit digitalen Medien zu arbeiten. Wir haben eine Lernplattform für die Schulen eingerichtet, in die wir Materialien einstellen. Das ist sowohl eine Wissensressource als auch eine Kommunikationsmöglichkeit.

Vock: Etwas aufwendiger sind unsere Videoproduktionen. Wir haben festgestellt, dass es schade wäre, die Zeit, in der wir persönlich an den Schulen anwesend sind, mit reiner Wissensvermittlung zu verbringen. Deshalb nehmen wir kurze Lernvideos auf, die die Lehrkräfte anschauen können, wann es ihnen gut passt. So sind sie flexibel und können besonders interessante Aspekte auch wiederholen, oder sie ihren Kolleginnen und Kollegen zeigen. Bisher kommen die Inhalte dafür von uns. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass im Verlauf des Projektes auch Anfragen von den Lehrerinnen und Lehrern an uns gerichtet werden, auf die wir reagieren können. „Leistung macht Schule“ ist ja als Entwicklungsprojekt angelegt. Auch wir lernen und entwickeln uns mit den Schulen weiter.

Welche Erfahrungswerte haben Sie persönlich schon mit der Lesson-Study-Methode?

Vock: Ich selbst habe als Hochschullehrerin Erfahrung damit gemacht. In unserem Department in der Uni gibt es seit einigen Jahren eine Arbeitsgruppe, in der sich Hochschuldozierende treffen, die dieselbe Lehrveranstaltung anbieten. Manchmal benötigen wir dafür sehr viele Lehrkräfte, weil alle Lehramtsstudierenden diesen bestimmten Kurs durchlaufen müssen. Dabei sind die Dozierenden sehr heterogen und die Studierenden natürlich auch. Ich war anfangs selbst skeptisch, weil ich dachte, dass es viel mehr Arbeit bedeutet, wenn gemeinsam geplant und gegenseitig hospitiert wird, und wollte zunächst, dass das Team es für ein Semester ausprobiert. Ich habe mich gefragt, ob die Dozentinnen und Dozenten das lange mitmachen. Aber es hat sich als ganz toll erwiesen. Alle haben die Methode als gewinnbringend erlebt und das Feedback war entsprechend gut – und die Gruppe hat weitergemacht.

Was ist ihre persönliche Motivation, sich für leistungsstarke und potenziell leistungsfähige Schülerinnen und Schüler einzusetzen?

Jurczok: An einer Grundschule kommen im besten Fall 24 Kinder mit den unterschiedlichsten Bedürfnissen in die Klasse. Lernschwache Schülerinnen und Schüler bis hin zu sehr leistungsstarken sitzen in einem Klassenraum. Im Sinne der individuellen Förderung aller Kinder ist es deshalb mein Anspruch, wirklich alle Kinder im Unterricht mitzunehmen. Ich möchte vermeiden, dass Leistungsstarke nur als „Hilfslehrer“ eingesetzt, oder bloß mit Zusatzaufgaben beschäftigt werden. Das kann zwischendurch mal eine sinnvolle pädagogische Intervention sein, dauerhaft brauchen aber auch Leistungsstarke mehr und anspruchsvollere Lernangebote. Auch sie sollen gesehen werden und ihre Möglichkeiten bekommen. Mich persönlich motiviert es, dass viele unserer Schulen diese Einstellung schon haben. Es ist ermutigend und toll, dass es – auch in Bezug auf unser Bildungssystem an sich – enorm viel Innovationskraft in den Schulen gibt.

Vock: Ich beschäftige mich in der Forschung seit fast 20 Jahren mit Begabungs- und Begabtenförderung und habe dadurch die Entwicklung in Deutschland verfolgt. In dieser Zeit hat sich so viel getan: Es gibt viele Wege, über die Leistungsstarke und besonders Begabte gefördert werden, aber das meiste davon passiert nicht im normalen Unterricht, sondern in den Ferien, am Nachmittag, in Zusatzkursen, oder an Spezialschulen. Deshalb sehe ich eine große Chance in der Initiative „Leistung macht Schule“. Endlich kommt die nötige Förderung im ganz alltäglichen Unterricht an, wo sie wirklich gebraucht wird. Denn da sitzen nun mal die allermeisten der leistungsstarken Kinder und Jugendlichen: in ganz normalen Schulen, in ganz normalen Klassen. Diese Aussicht motiviert mich.

Frau Professorin Vock, Frau Doktorin Jurczok, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Professorin Dr. Miriam Vock

Die Psychologin Miriam Vock leitet an der Universität Potsdam den Arbeitsbereich Empirische Unterrichts- und Interventionsforschung und ist Mitglied der Steuergruppe des LemaS-Forschungsverbunds. An der Universität bildet sie zukünftige Lehrerinnen und Lehrer in den Bereichen Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik aus. In ihren Forschungen befasst sie sich mit Hochbegabungs- und Begabungsförderung innerhalb und außerhalb der Schule und mit Inklusion. Bis 2011 war sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) tätig, das an die Humboldt-Universität in Berlin angegliedert ist. Miriam Vock ist zudem Initiatorin des Refugee Teachers Program, das geflüchteten Lehrerinnen und Lehrern einen beruflichen Wiedereinstieg in Deutschland ermöglicht und geflüchtete Schülerinnen und Schüler bei der Integration unterstützt.

Dr. Anne Jurczok

Anne Jurczok hat Politische Bildung und Englisch auf Lehramt studiert und ist mit einer Doktorarbeit zur Wahl von Einzelschulen im urbanen Schulangebot promoviert worden. Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Miriam Vock und leitet für „Leistung macht Schule“ das Projekt zur kooperativen Unterrichtsentwicklung.