Mit Freude literarisch schreiben

Die Lehrerinnen Susanna Bauer und Sandra Kaiser und die Wissenschaftlerinnen Dr. Beate Laudenberg und Lisa Sellinger entwickeln Konzepte und Aufgabenformate für das literarische Schreiben. Dabei setzen sie Schreibimpulse ein, die Kinder und Jugendliche besonders begeistern.

Schreibendes Mädchen

Adobe Stock / Maksim Kostenko

Welche Ziele verfolgen Sie mit Ihrem Projekt für „Leistung macht Schule“?

Laudenberg: Mit dem literarischen Schreiben möchten wir allen Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit geben, ihre sprachlichen, schriftsprachlichen und literarischen Kompetenzen zu verbessern. Das hat zugleich positive Auswirkungen auf das Lesen. Lehrkräfte möchten wir dafür sensibilisieren, dass sie ihre Schülerinnen und Schüler mit differenzierenden Aufgaben individuell fördern können.

Eigentlich schreiben Kinder nicht besonders gern nach festgelegten Strukturen. Beim literarischen Schreiben wird aber genau das gefordert. Wie begeistern Sie Schülerinnen und Schüler trotzdem dafür?

Laudenberg: Wir geben ihnen fiktive Vorbilder an die Hand. Das sind Figuren aus der Kinder- und Jugendliteratur, die selbst schreiben. Ein Beispiel dafür ist „Mina“, die Hauptfigur aus dem gleichnamigen Buch von David Almond. Mina ist Tagebuchschreiberin, verfasst aber auch Gedichte und andere Texte. Erst lernen die Schülerinnen und Schüler anhand ausgewählter Textstellen Mina und ihre Art zu schreiben kennen, und dann schreiben sie selbst. Dabei ahmen sie zwar die Art der schreibenden Figuren nach, verwenden dabei aber ihre eigenen Ideen und Formulierungen. Wir nennen das imitativ-variierendes Schreiben.

Sellinger: Dabei geht es uns eher um den Schreibprozess als um fertige Texte. Auch das ist wichtig, wenn das literarische Schreiben Schülerinnen und Schüler nicht überfordern soll. Wir wollen zunächst entdecken: Was kann ein Kind schon? Wie schreibt es und wonach schreibt es? Erst wenn wir das herausgefunden haben, können wir ein Kind gezielt fördern.

Laudenberg: Im Kunstunterricht funktioniert das ganz ähnlich: Bevor wir ein Bild malen können, müssen wir etwas über Zeichentechnik, Komposition und Farbe lernen. Deshalb befassen wir uns mit Teilaspekten des literarischen Schreibens. Anhand von Vorbildtexten schulen wir einzelne rhetorische Fähigkeiten. Dabei erfahren die Kinder etwa, mit welchen sprachlichen Mitteln sie eine Situation auf eine witzige Weise beschreiben können. Oder sie arbeiten mit Lautmalereien, um ihre Gedichte auf vielfältige Weise zum Klingen zu bringen. So führen wir die Kinder letztlich an das lyrische Schreiben, das szenische Schreiben oder eben an das erzählende Schreiben heran.

Nach welchen Kriterien suchen Sie Vorbildtexte aus?

Sellinger: Damit die Kinder imitativ-variierend schreiben können, haben wir Bücher mit Hauptfiguren ausgewählt, die eigene Texte verfassen. Das sind in der Kinderliteratur oft tagebuchschreibende Figuren wie Mina. Uns kam es außerdem darauf an, dass die Schülerinnen und Schüler mit Textauszügen arbeiten können, ohne ein ganzes Buch lesen zu müssen. So haben dafür auch unsere Projektschulen Textbeispiele aus Lektüren vorgeschlagen, die sie ohnehin in verschiedenen Klassen anbieten und die für unsere Zwecke gut geeignet sind.

Laudenberg: Auch die Reihe „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ von Andreas Steinhöfel ist ein besonders passendes Beispiel, weil darin gezeigt wird, dass auch ein „Tiefbegabter“, wie Steinhöfel ihn nennt, Begabungen hat. In diesem Fall ist es der Förderschüler Rico, der ein Tagebuch schreibt. Dafür muss er nicht „hochbegabt“ sein wie sein Freund Oskar, der auch seine Defizite hat. Es ist gut, wenn Schülerinnen und Schüler das merken. Zudem hat Steinhöfel eine sehr witzige Art, aus kindlicher Sicht zu schreiben. Das spricht Kinder besonders an.

Frau Bauer und Frau Kaiser, woran erkennen Sie leistungsstarke Schülerinnen und Schüler, wenn sie literarisch schreiben?

Bauer: Leistungsstarke Kinder springen besonders gut auf die Schreibimpulse durch Vorbilder an. Sie können den Duktus, den eine Autorin oder ein Autor vorgibt, besonders gut nachahmen und gleichzeitig ihre eigenen Inhalte in Texte hineinlegen. Außerdem sind sie oft unheimlich wortgewandt und komponierfreudig.

Kaiser: Manchmal geraten sie in einen regelrechten Schreibrausch, wenn ihnen die Feder überlassen wird. Zum Beispiel hat kürzlich eine kleine Gruppe von Schülerinnen und Schülern ein eigenes Büchlein verfasst, einfach weil sie Lust dazu hatten.

Laudenberg: Als wir sahen, wie facettenreich die Kinder mit unseren Aufgaben zu Mina umgegangen sind, haben wir gemerkt, dass wir im Grunde auf eine aufwendige Diagnose, wie wir sie vorher durchgeführt hatten, verzichten könnten. Allein mit den differenzierenden Aufgaben, also letztlich durch das literarische Schreiben an sich, wird schon deutlich, ob Kinder in diesem Bereich leistungsstark sind oder nicht.

Gemeinsam haben Sie differenzierende Aufgaben für den Unterricht entwickelt. Inwiefern eignen sie sich dafür, leistungsstarke Kinder herauszufordern?

Sellinger: Das Format der differenzierenden Aufgaben gibt Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, individuell mit bestimmten Unterrichtsinhalten umzugehen. Bei differenzierenden Aufgaben wird nicht eine bestimmte Antwort erwartet. Vielmehr gehen Kinder und Jugendliche ihren eigenen, kreativen Weg, um zu ihrem persönlichen Ergebnis zu gelangen. Dabei schöpfen sie ihre Fähigkeiten umfassender aus und Lehrkräfte können Begabungen und Talente ihrer Schülerinnen und Schüler besser erkennen.

Berühmte Schriftstellerinnen und Schriftsteller geben den Schülerinnen und Schülern in Videostatements Tipps zum literarischen Schreiben. Wie kam es dazu?

Laudenberg: Mit Ausbruch der Corona-Pandemie konnten wir unsere Schreibimpulse nicht mehr so einsetzen und erproben, wie wir es geplant hatten. Da kam mir die Idee, mit realen Vorbildern zu arbeiten und dabei die Vorteile des digitalen Lehrens und Lernens zu nutzen. Also haben wir, in Absprache mit unseren Lehrkräften, acht Schriftstellerinnen und Schriftsteller gebeten, in jeweils einem 15-minütigen Video-Beitrag Statements zu unseren Schwerpunkten des literarischen Schreibens abzugeben. Andreas Steinhöfel spricht zum Beispiel über die Figurendarstellung, Katharina Herzog über den Spannungsaufbau und Eva Rottmann über das szenische Schreiben. Auch Odile Kennel, Dalibor Marković, Andrea Karimé, José Oliver und Markus Orths konnten wir für unser Projekt gewinnen.
 

In seinem Videostatement spricht José Oliver über das lyrische Schreiben. © José F. A. Oliver / LemaS-Forschungsverbund.

Wie werden die Videos an den Schulen eingesetzt?

Sellinger: Damit die Kinder die vielen Eindrücke, die in so einem Video auf sie einwirken, nicht auf einmal verarbeiten müssen, haben wir die Videos nach Sinnabschnitten gegliedert. So können Lehrkräfte sie gezielt unterbrechen und Hintergrundinformationen dazu vermitteln oder Übungen einschieben. Lehrkräften, die das Material künftig nutzen werden, bieten wir zusätzlich didaktische Hinweise und Informationen für einen differenzierenden Unterricht an. Die Lehrkräfte an unseren Projektschulen unterstützen uns dabei, dieses Material möglichst passend und für alle verständlich aufzubereiten.

Laudenberg: Unsere Videoclips sind nun, wie die Aufgabenformate, Teil eines digitalen Bausteinkastens zum literarischen Schreiben, der in der Transferphase von „Leistung macht Schule“ auch neuen Partnerschulen zur Verfügung stehen wird.

Und wie reagieren die Schülerinnen und Schüler auf die Videos?

Bauer: Sie sind begeistert! Wir haben kürzlich das Video von Andrea Karimé zum lautmalerischen Schreiben eingesetzt, und der Funke ist sofort übergesprungen. Die Autorin hat ein ganz besonderes Talent, die Kinder mit ihrer Mimik und Gestik anzusprechen, das ist wunderbar. Unsere Schülerinnen und Schüler haben sofort verstanden, dass sie ihrer Fantasie freien Lauf lassen dürfen. Das war unglaublich anregend für sie.

Laudenberg: Es ist wirklich schön zu sehen, dass die Kinder mit solchen Impulsen gleich den Stift in die Hand nehmen und zu schreiben beginnen. Denn das ist gar nicht so selbstverständlich. Während der Corona-Pandemie mussten sie zumeist sehr viele Aufgabenblätter bearbeiten, und viele schreiben deshalb noch weniger gern als vorher. Aber mit unseren Schreibimpulsen ist das anders.

Wie kommen die Kinder vom Vorbild zum eigenen Text?

Bauer: Andrea Karimé zum Beispiel arbeitet mit zusammengesetzten Wörtern. Sie nennt sie Wortgeschöpfe. Im Video haben die Kinder gesehen, wie Karimé sie konstruiert. In der Videopause haben sie selbst spielerisch Wortgeschöpfe kreiert, ganz mutig und frei. Der blaue Schal der Lehrerin wurde dabei zum „Blauschal“ oder zum „Schalwuschel“. Anschließend haben die Schülerinnen und Schüler Sätze mit den Wortgeschöpfen gebaut. Daraus sind schließlich kurze Texte geworden. Gemeinsam mit Frau Laudenberg und Frau Sellinger überlegen wir nun, ob und wie wir die Unterrichtseinheit zu diesem Baustein noch verändern wollen.
 

Bild des Fragebogens

Eine Aufgabe zum Video von Andrea Karimé zum „Lautmalerischen Schreiben“ (links). Das Ergebnis (rechts) ist die Wörtersammlung eines Kindes aus der dritten Klasse.

Grund- und Mittelschule Rosenheim-Aising, Susanna Bauer.

Wie verankern Sie diesen Erfolg langfristig?

Sellinger: Viele Schulen richten derzeit Ressourcenräume für das literarische Schreiben ein, die wir Lese-Ecke oder Lese-Lounge nennen. Denn Lesen sollte dem Schreiben vorausgehen und es begleiten. Daher liegen in einem solchen Raum neben Leseempfehlungen auch Schreibratgeber bereit, mit denen die Schülerinnen und Schüler altersgerecht angeleitet werden. So finden die Kinder dauerhaft – auch über den Unterricht hinaus – einen geeigneten Platz zum Schreiben. Auch für die Lehrkräfte gibt es entsprechendes Informationsmaterial. Das alles wird in ein eigenes Corporate-Design gehüllt, das wir gemeinsam mit den Projektschulen entwickelt haben.

Kaiser: An unserer Schule richten wir in der Bibliothek eine Lese-Lounge nach den Wünschen unserer Schülerinnen und Schüler ein. Darüber hinaus stellen wir regelmäßig die Texte der Kinder aus. So werden ihre Produkte auch von Mitschülerinnen und Mitschülern, anderen Lehrkräften und Eltern gewürdigt. Das gibt gleich noch mehr Schwung für die nächste kreative Phase.

Bauer: Einige unserer Kolleginnen und Kollegen haben als Reaktion auf die Ausstellungen Ähnliches mit ihren Klassen gestartet. Wir reden zwar auch in unseren Konferenzen über die Projektergebnisse von „Leistung macht Schule“, aber je konkreter das literarische Schreiben zu greifen ist, umso interessanter wird es.

Laudenberg: Und genau das ist eines der zentralen Ziele von unserem „Leistung macht Schule“-Projekt. Wir möchten, dass das Schreiben ein Teil der Schulkultur wird. Und es ist wunderbar zu erleben, wie Schulen das schaffen, wenn alle gemeinsam daran arbeiten und alle Schülerinnen und Schüler ihre Begabungen entfalten können.

Frau Bauer, Frau Kaiser, Frau Dr. Laudenberg und Frau Sellinger, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Dr. Beate Laudenberg

Am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe lehrt Dr. Beate Laudenberg als Privatdozentin Literaturwissenschaft und -didaktik. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Literatur der Goethe-Zeit, inter- beziehungsweise transkulturelle (Kinder- und Jugend-) Literatur sowie literarische Bildung und Begabungsförderung.

Wissenschaftliche Mitarbeiterin Lisa Sellinger

Lisa Sellinger hat bis 2016 am Karlsruher Institut für Technologie die Fächer Mathematik und Deutsch auf Gymnasiallehramt studiert. Danach absolvierte sie ihr Referendariat am Gymnasium Remchingen (Baden-Württemberg). Seit 2019 arbeitet sie für „Leistung macht Schule“ im Projekt „Literarisches Schreiben im Unterricht der Primar- und Sekundarstufe“.

Lehrerin und Konrektorin Susanna Bauer

Deutsch, Biologie und Physik hat Susanna Bauer auf Lehramt an der Universität Bielefeld studiert. Seit 2002 unterrichtet sie an der Grund- und Mittelschule Rosenheim-Aising (Bayern), wo sie seit 2014 Konrektorin ist. Susanna Bauer koordiniert das Breitenförderungskonzept „FitZ“ (Fit in die Zukunft) und das „Leistung macht Schule“-Projekt an ihrer Schule. Es begeistert sie immer wieder, wie entspannt und mutig Kinder werden, wenn sie spüren, dass sie ernst genommen und gesehen werden.

Lehrerin Sandra Kaiser

An der Julius-Maximilians-Universität Würzburg hat Sandra Kaiser Lehramt an Grundschulen mit den Fächern Mathematik, Deutsch, Biologie und Sport studiert. Seit 2005 unterrichtet sie an der Grund- und Mittelschule Rosenheim-Aising und begleitet diese auf ihrem Weg zur Begabungsförderung. Sie betreut die Schülerbücherei und das „Leistung macht Schule“-Projekt. Ein stärkenorientierter Blick auf ihre Schülerinnen und Schüler liegt ihr besonders am Herzen.