Mit dem Lese-Sportler-Programm zum sicheren Lesen

Die Lehrerin Jasmine Lukas und die Wissenschaftler Professor Elmar Souvignier und Doktor Martin Salaschek fördern die Lesekompetenzen von Grundschulkindern. Dabei berücksichtigen sie den individuellen Leistungsstand und unterstützen die Kinder gezielt.

Screenshot  der Videokonferenz

Doktor Martin Salaschek (oben links), Lehrerin Jasmine Lukas (oben rechts) und Professor Elmar Souvignier (unten) im Online-Interview

DLR Projektträger

Leistung-macht-Schule.de: Frau Lukas, Herr Professor Souvignier und Herr Doktor Salaschek, warum ist die individuelle Leseförderung gerade in der Grundschule so wichtig?

Souvignier: Zu keinem Zeitpunkt sind die Leistungen von Kindern unterschiedlicher als in der Grundschulzeit und deshalb ist individuelle Förderung besonders wichtig. Das ist genau der Moment, wo es um einen guten Start geht, wo Grundlagen gelegt und Basiskompetenzen erworben werden.

Salaschek: Darauf müssen wir reagieren, indem wir den Kindern verschiedene Inhalte und Methoden anbieten und damit individuell auf sie eingehen. Unsere Aufgabe ist es, herauszufinden: Was ist das Richtige für welches Kind? Welche Teilkompetenzen müssen überhaupt noch erworben werden? Dafür müssen wir erfahren, wo die Kinder in ihrem Lernprozess stehen. Das ist nicht bei allen Schülerinnen und Schülern im Unterricht klar zu erkennen. Manche trauen sich nicht, ihr Können zu zeigen, oder sie versuchen ihre Schwächen in einem bestimmten Bereich zu verstecken. Deshalb brauchen wir eine gute Diagnostik, die den tatsächlichen Leistungsstand systematisch und zuverlässig erfasst.

Und wie genau diagnostizieren Sie, wo die einzelnen Schülerinnen und Schüler abgeholt werden müssen?

Lukas: Wir nutzen für „Leistung macht Schule“ im Leseunterricht eine Lernverlaufsdiagnostik, um die Leistung der Kinder beim Lesen festzustellen. Sie heißt quop und wurde an der Uni Münster entwickelt. Die darin enthaltenen Tests werden nicht benotet und völlig ohne Druck eingesetzt. Deshalb bearbeiten meine Schülerinnen und Schüler sie mit großer Freude. Wir Lehrkräfte übrigens auch (lacht). Im Gegensatz zu den üblichen Klassenarbeiten zeigt die Lernverlaufsdiagnostik nicht nur, was ein Kind zu einem bestimmten Zeitpunkt kann, oder was es nicht kann. Sondern wir ermitteln genau, ob es die Lesegenauigkeit, die Lesegeschwindigkeit, oder etwas ganz anderes noch üben sollte.

Können Sie dafür ein Beispiel geben?

Lukas: Wenn ein Kind zum Beispiel noch holprig liest, dann hat es im Gehirn einfach keine Kapazitäten mehr für das Textverständnis frei. Dann müssen wir einen Schritt zurückgehen und zum Beispiel noch einmal silbenbasiertes Lesen üben. Leider schrecken genau davor viele Lehrkräfte zurück, denn es gibt ja bestimmte Lernziele, die sie mit allen Kindern am Ende des Schuljahres erreicht haben müssen. Auch ich hatte anfangs nicht den Mut, einen Schritt zurückzugehen. Aber es lohnt sich! Denn ist die eigentliche Hürde erst einmal überwunden, dann kommen die Kinder insgesamt effektiver voran.

Salaschek: Dabei ist es besonders wichtig, dass wir nicht etwa nur ein einziges Mal nach dem Lernstand schauen, sondern kontinuierlich, mit idealerweise acht Testzeitpunkten im Schuljahr. So können die Lehrkräfte immer wieder prüfen, ob das, was sie mit ihren Schülerinnen und Schülern in der Zwischenzeit unternommen haben, auch zu den gewünschten Lernzuwächsen geführt hat. Wenn nicht, können sie entsprechend nachsteuern.

Mit dem Stichwort Steuerung kommen wir zum zweiten wesentlichen Element in Ihrem Projekt, nämlich zur differenzierten Leseförderung. Was ist das genau?

Salaschek: Ich glaube das wird verständlich, wenn wir uns ansehen, wie der Leselernprozess bei Kindern abläuft: Anfangs lernen Schülerinnen und Schüler einzelne Buchstaben und Silben zu erkennen. Ein Kind liest vielleicht „Deeer kleee—klei—nee Zaa—Zau—beereer“. Dabei konzentriert es sich vollkommen auf die Entschlüsselung einzelner Buchstaben, Silben und später auch Wörter und macht noch recht viele Lesefehler. Aus einem „Brot“ wird zum Beispiel schnell ein „Boot“, weil sich die beiden Wortbilder ähneln. Wenn ein Kind Wörter richtig entschlüsseln kann, dann soll genau das automatisiert werden. Erst danach kann sich ein Kind auch auf den Inhalt eines Textes konzentrieren.

Souvignier: Diesen Entwicklungen entsprechend haben wir ein Lesekompetenzmodell entwickelt, das sich zunächst auf die Lesegenauigkeit und dann auf die Lesegeschwindigkeit konzentriert. Zusammen ergibt sich daraus die Leseflüssigkeit. Erst danach beschäftigen wir uns mit dem Leseverständnis. Als Fördermaterial nutzen wir das sogenannte Lese-Sportler-Programm, das diese drei Lernschritte gezielt bedient.

Diagramm zur Leseflüssigkeit

Das vereinfachte Lesekompetenzmodell zeigt die empfohlenen Fördergruppen im Lese-Sportler-Programm auf Basis von quop-Ergebnissen.

Die Materialien wurden von der Arbeitseinheit Diagnostik und Evaluation im schulischen Kontext / Universität Münster erstellt. Sie stehen unter der Lizenz "CC-BY-NC 4.0" (https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/deed.de) und dürfen entsprechend verwendet werden.

Und was ist das Lese-Sportler-Programm genau?

Souvignier: Das Lese-Sportler-Programm umfasst Lernmaterialien für den Unterricht und ist auf die genannten Leseentwicklungsschritte von Kindern, die wir mit der Lernverlaufsdiagnostik erfassen, abgestimmt. Es enthält Lernmethoden, von denen wir aus der Forschung wissen, dass sie bestimmte Lesefähigkeiten passgenau adressieren. Die Lese-Sportler trainieren mit dem Lese-Slalom silbenbasiertes Lesen, mit dem Lese-Sprinter wiederholtes lautes Lesen und mit dem Lese-Kanu strategieorientiertes Lesen. Jede Methode ist in der Schwierigkeit sechsfach gestuft. Auf insgesamt 18 Leveln stehen uns also genügend Texte und Strategien zur Verfügung, um sie für jedes Kind individuell einsetzen zu können. Für uns als Forschende ist es besonders spannend, in der Zusammenarbeit mit den Schulen zu sehen, was an den Lese-Sportlern schon gut funktioniert, und an welchen Stellen wir sie noch verbessern müssen.

Zum Videokanal der Lesesportler

Die diagnosebasierte, differenzierte Förderung mit den drei Lese-Sportler-Methoden werden über den YouTube-Kanal „di2Lesen Leseförderung und Lernverlaufsdiagnostik“ anschaulich erklärt.

Die Materialien wurden von der Arbeitseinheit Diagnostik und Evaluation im schulischen Kontext / Universität Münster erstellt. Sie stehen unter der Lizenz "CC-BY-NC 4.0" (https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/deed.de) und dürfen entsprechend verwendet werden

Frau Lukas, wie organisieren Sie die passgenaue Förderung mit den Lese-Sportlern innerhalb der Klasse?

Lukas: An unserer Schule haben wir eine Lese-Sportler-Stunde in den Wochenplan eingeführt. Ich bringe all die Kinder, die laut Lernverlaufsdiagnostik einen ähnlichen Leistungsstand haben, zusammen. In den höheren Stufen, also wenn es um das Textverständnis geht, ist es wichtig, homogene Gruppen zu bilden. In den unteren Stufen, wo es noch um das silbenbasierte Lesen geht, ist eine leistungsheterogene Paarbildung sinnvoller. Dann führe ich die einzelnen Methoden ein und gebe den Kindern später ein gebündeltes Feedback. Das klappt ganz gut. Natürlich muss ich als Lehrkraft beachten, dass solche Methoden am Anfang ausführlich eingeführt werden, aber dann sind sie ein Selbstläufer.

Wie genau läuft eine solche Diagnostik- und Lese-Sportler-Stunde ab?

Lukas: Wir haben das große Glück, dass wir mit Tablets arbeiten können, die in der Handhabung besonders praktikabel sind. Die Tests der Lernverlaufsdiagnostik dauern nur circa 15 Minuten. Am Anfang war es natürlich etwas mehr, deshalb habe ich mir für die jüngeren Schülerinnen und Schüler Hilfe bei unseren sonderpädagogischen Fachkräften geholt. Die Testergebnisse zeigen den Kindern und mir dann genau, was sie schon können. Jedes Kind bekommt eine kurze graphische Rückmeldung und sieht so auf einen Blick, ob es sich verbessert hat. Wir Lehrkräfte erhalten ein etwas differenzierteres Bild in der Lehreransicht.

Und wie gehen Sie mit dem Ergebnis um?

Lukas: Sehe ich in einer dargestellten Kurve zum Beispiel, dass ein Kind zwar schnell gelesen, aber den Text kaum verstanden hat, kann ich anhand von weiteren graphischen Darstellungen genau ermitteln, woran es liegen könnte. In der Testauswertung finde ich außerdem einen Feedbackvorschlag für das Kind. Besonders schön daran ist, dass die Feedbacks zum Leistungsstand immer positiv formuliert sind. Etwa wie: „Toll! Du hast schon zügig gelesen. Aber versuche noch einmal etwas genauer hinzuschauen.“ Mit dieser Aufforderung wird immer ein konkretes Ziel verbunden und mit den entsprechenden Lese-Sportlern das passende Übungsmaterial vorgeschlagen. So gibt es über das Schuljahr hinweg für alle Kinder immer wieder eine Art Dreiklang-Lernschleife aus Diagnose, Feedback und Förderung. Dabei verbessern sich die Schülerinnen und Schüler, oder wir müssen nochmal einen Schritt zurück gehen. Wir passen das Lernen also regelmäßig an.

Souvignier: Dieses an sich simple Zusammenspiel von Diagnostik, Feedback und Förderung in die Realität umzusetzen, kann allerdings ziemlich viele Tücken mit sich bringen: etwa eine nicht funktionierende Technik oder eine zeitlich aufwendige Einführung neuer Methoden. Innerhalb unseres Gesamtkonzeptes ist die Förderung das eigentliche Herzstück, denn von Diagnostik allein wird am Ende kein Kind schlau. Aber eine gute Förderung setzt eben eine gute Diagnostik voraus. Und beides gezielt einzusetzen, das lohnt sich.

Was hat sich mit der Einführung dieses Systems am Unterricht verändert? Was tut sich bei den Schülerinnen und Schülern?

Lukas: Sie haben Freude daran, mithilfe der Tests immer wieder zu sehen, was sie schon können. Für mich als Lehrerin ist es gut, ab und zu daran erinnert zu werden, ein direktes Feedback zu geben. Denn damit lernen die Kinder, ihren Lernprozess selbst in die Hand zu nehmen und das erhöht ihre Motivation. Dadurch haben sie sich insgesamt enorm verbessert.

Salaschek: Vielleicht klingt es erst einmal schräg, dass „Tests“ in der Schule Spaß machen. Aber die Lernverlaufsdiagnostik fokussiert eben den individuellen Lernverlauf und fragt: Was kannst DU schon? Es geht also nicht um einen Vergleich zu allen anderen in der Klasse, der sehr demotivierend sein kann. Ein solches Vorgehen ist durchaus nicht selbstverständlich im Unterricht. Für ein regelmäßiges, differenziertes und systematisches Feedback müssen Lehrkräfte ihren Unterricht oft grundlegend umgestalten. Da hat auch Frau Lukas sicherlich viel Aufwand hineingesteckt.

Und wie reagieren die leistungsstarken Schülerinnen und Schüler darauf?

Lukas: Sie genießen sowohl die homogenen Gruppen als auch die an ihren Leistungsstand angepassten Aufgaben. Dadurch werden sie mehr gefordert als sonst und entwickeln sich entsprechend besser. Grundsätzlich mache ich die Erfahrung, dass alle Kinder durch das Feedback eine Transparenz erhalten, die sie sehr bestärkt. Für sie ist es kein Geheimnis mehr, was sie üben und wo wir mit ihnen hin wollen. Sie steuern selbst mit.

Haben Sie mit der Lernverlaufsdiagnostik denn auch mehr leistungsstarke, oder eben potenziell leistungsstarke Kinder in Ihrer Klasse gefunden?

Lukas: Ja, sogar einige. Es gibt immer wieder Kinder, die unter dem Radar fliegen, weil sie in den benoteten Klassenarbeiten schlecht abschneiden, sei es aus Prüfungsangst oder weil die Arbeiten keine vielfältigen Fähigkeiten abfragen.

Wie binden Sie Ihr Kollegium in Ihre Erkenntnisse aus der Initiative ein?

Lukas: Das machen wir in Deutsch-Fachkonferenzen, bei denen wir gemeinsam überlegen, wie die Lernverlaufsdiagnostik und die Förderstrategien langfristig in den Unterricht integriert werden können. Wir wollen beides fest im Unterrichts- und Schulprogramm verankern – und zwar institutionell, also unabhängig von einzelnen Lehrkräften, die ja immer kommen und gehen können.

Und wie reagieren Ihre Kolleginnen und Kollegen und die Eltern der Kinder auf die Methoden von „Leistung macht Schule“?

Lukas: Das Kollegium bewertet unser Projekt positiv, weil unsere Diagnose-Instrumente die alltägliche Arbeit deutlich vereinfachen. Jetzt stehen gerade wieder Elterngespräche an, vor allem auch Übergangsgespräche. Dank der Lernverlaufsdiagnostik können wir viel transparenter mit den Eltern über die Entwicklung ihrer Kinder sprechen und diese über lange Zeiträume hinweg Schwarz auf Weiß aufzeigen.

Können Sie dafür ein Beispiel geben?

Lukas: In einem Elterngespräch hat eine Mutter einmal sehr stolz berichtet, dass ihr Kind schon Harry Potter liest. Gleichzeitig hat sie sich aber gefragt, warum es in den Lesearbeiten so schlecht abschließt. Mit unserer Lernverlaufsdiagnostik konnte ich ihr zeigen, dass Bücher wie Harry Potter einfach noch zu schwierig für ihr Kind waren. Etwas leichtere Lektüre laut und gern auch gemeinsam mit anderen laut zu lesen, war zu diesem Zeitpunkt viel ratsamer. Mit dieser Rückmeldung konnten Mutter und Kind gleich handeln und waren beide sehr erleichtert.

Mit der Lernbegleitung sprechen Sie einen wesentlichen Punkt an: Wie wirkt sich die Corona-Pandemie, mit der Sie ja nun bereits seit fast einem Jahr umgehen müssen, auf Lernverlaufsdiagnostik und passgenaue Förderung aus?

Lukas: Die Tests werden nun von den Kindern per QR-Code-Zugang von Zuhause aus gemacht. Anfangs hatten wir die Befürchtung, dass die Eltern dabei zu stark eingreifen und damit die Ergebnisse gewissermaßen verfälschen würden. Deshalb haben wir den Sinn und Zweck dahinter noch einmal detailliert erklärt und es scheint zu funktionieren. So behalten wir zumindest einen guten Überblick darüber, wie es um die Leistungsentwicklung der einzelnen Schülerinnen und Schüler steht.

Souvignier: Das eigentliche Dilemma in dieser Phase ist, dass wir eben nicht alle Kinder ohne Weiteres passgenau fördern können. Das gelingt uns wahrscheinlich erst wieder mit der Rückkehr in die Schule. Und dann werden wir dringend gegen das Bild ankämpfen müssen, dass ein Schritt zurück etwas Fürchterliches sei. Nur wenn wir die Schülerinnen und Schüler wirklich dort abholen, wo sie nach dem Distanzunterricht stehen, können wir ihnen auch dabei helfen, mögliche Lernlücken zu füllen und dann wieder gemeinsam Gas geben.

Frau Lukas, Herr Professor Souvignier, Herr Doktor Salaschek, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Lehrerin Jasmine Lukas

Seit 2017 ist Jasmine Lukas Deutschlehrerin an der Peter-Härtling-Grundschule in Friedrichsdorf bei Frankfurt am Main. Sie hat an der Goethe-Universität in Frankfurt Deutsch, Sport und Katholische Theologie studiert. An ihrer Schule setzt sie sich vor allem für individualisierende Lernmethoden und eine allgemeine Stärkenorientierung ein.

Professor Dr. Elmar Souvignier

Der Psychologe Elmar Souvignier leitet seit 2007 die Arbeitseinheit Diagnostik und Evaluation im schulischen Kontext am Institut für Psychologie, Bildung und Erziehung an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. In seinen Forschungen beschäftigt er sich neben der diagnosebasierten, differenzierten Leseförderung in der Grundschule vor allem mit Transferforschung.

Dr. Martin Salaschek

Als Wissenschaftlicher Mitarbeiter arbeitet Martin Salaschek am Lehrstuhl von Professor Souvignier. 2014 ist er im Fach Psychologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität promoviert worden. Er beschäftigt sich mit Forschungs-Praxis-Transfer im Bildungs- und Gesundheitsbereich sowie mit der Evaluation entsprechender Maßnahmen. Für „Leistung macht Schule“ betreut er das Projekt DiFF D2Lesen und stellt weiterführende Informationen zu diesem Thema über eine Praxis-Transfer-Website zur Verfügung.