Spannender Physikunterricht ist keine Zauberei

Doktor René Dohrmann von der Freien Universität Berlin entwickelt abwechslungsreiche Unterrichtsmodelle und komplexe Lernaufgaben. Damit entdecken und bewahren Schülerinnen und Schüler ihr Interesse an der Physik und schöpfen ihre Potenziale besser aus.

René Dohrmann im Interview

Dr. René Dohrmann trifft die Physik-Lehrkräfte auf der Jahrestagung von „Leistung macht Schule“ in Karlsruhe.

Fotografenfamilie Eidens-Holl

Leistung-macht-Schule.de: Herr Doktor Dohrmann, immer mehr Schülerinnen und Schüler entscheiden sich für das Fach Physik, aber im Vergleich zur Biologie, oder gar Deutsch und den Fremdsprachen, ist es auch heute noch eines der unbeliebtesten Schulfächer an weiterführenden Schulen. Warum ist das so?

Wahrscheinlich liegt das an der starken Mathematisierung der Physik in der weiterführenden Schule, zu der viele Kinder und Jugendliche einen eher eingeschränkten Zugang finden. Mathematik ist eine logische Disziplin, die auf Regeln basiert und extrem abstrakt sein kann. Wenn die Mathematik den Physikunterricht bestimmt, verdirbt das womöglich einigen mit der Zeit den Spaß daran.

Das heißt, das Fach wird erst im Laufe der Schulzeit unbeliebt?

In der Grundschule gehören die Naturwissenschaften tatsächlich noch zu den beliebtesten Fächern. Erst danach fällt das Interesse daran stark ab – bei Mädchen sogar noch stärker als bei Jungen. Und das ist doch wirklich schade! Denn die Physik bietet so viele spannende Entdeckungen! Alles was uns umgibt und uns ausmacht ist Physik. Sie kann uns die Welt erklären. Würden die Lehrkräfte dieses Fach eher offen erforschend und phänomenbasiert angehen, dann bliebe das kindliche Interesse daran wahrscheinlich erhalten.

Inwiefern bleiben die Grundschulen denn näher an der Physik?

In der Grundschule orientieren sich die Lehrkräfte mit ihren Schulkindern noch eher an Phänomenen: Es wird zunächst in die Natur geschaut, damit sich die Kinder über bestimmte Erscheinungen ein Bild machen und darüber staunen können. Danach wird beispielsweise gefragt „Wie entsteht ein Regenbogen?“. In der physikalischen Erklärung überlegen Lehrkräfte womöglich, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit ein Regenbogen entsteht. Vielleicht würden sie vergleichbare Leuchterscheinungen betrachten, bevor sie gemeinsam mit ihren Schülerinnen und Schülern eine kindgerechte, qualitative Erklärung der dahintersteckenden physikalischen Zusammenhänge erarbeiten.

Hingegen wird das Thema Regenbogen in der Sekundarstufe I zwar oft anschaulich eingeführt, aber dann womöglich mit den Berechnungsgrundsätzen am Tropfen vertieft. Bei dieser mathematischen Herangehensweise vergeht vielen das Staunen über das an sich faszinierende Phänomen. Auch der physikalische Hintergrund kommt dabei oft zu kurz: Zwar lernen manche Schülerinnen und Schüler den Lichteinfalls- und Ausfallswinkel zu berechnen, aber die vom Phänomen ausgehende Ausgangsfrage „Wie wird ein Regenbogen sichtbar?“ wird weniger zufriedenstellend beantwortet.

Wie muss Physikunterricht aussehen, damit (potenziell) leistungsstarke Kinder und Jugendliche dazu ermutigt werden, das Fach zu entdecken und ihr Potenzial stärker zu entfalten?

Der Unterricht sollte freier und abwechslungsreicher gestaltet sein und so eine kreative Lernumgebung zur Kompetenzentwicklung schaffen. Das geht zum Beispiel mit komplexen Lernaufgaben. Das Besondere an diesem Aufgabentyp ist, dass die Schülerinnen und Schüler sie in Eigenregie, unterstützt durch Lernhilfen, bearbeiten. Das motiviert die Kinder und Jugendlichen dazu, ihre Möglichkeiten weitreichend auszuschöpfen und ihre Ideen frei einzubringen.

Aus der Forschung wissen wir schon lange, dass Unterrichtsinhalte immer dann gut vernetzt und abgespeichert werden, wenn die Lernenden sich diese selbst erarbeiten. Auch deshalb sind die komplexen Lernaufgaben im Regelunterricht ein großer Gewinn. Ein weiterer Vorteil ist, dass Lehrkräfte an der Art, wie die Kinder und Jugendlichen die Aufgaben bearbeiten, deren Leistungsstärke und ihr Interesse am Fach erkennen können.

Ein solches Aufgabenformat muss aber nicht immer der goldene Lösungsweg sein. Es passt vielleicht nicht zu allen Themen und Situationen. Aber eine gewisse Abwechslungskultur im Regelunterricht zu etablieren, das wäre schon gut.

Welche Kompetenzen entwickeln denn (potenziell) leistungsstarke Schülerinnen und Schüler idealerweise im Fach Physik?

Jedes Unterrichtsfach hat spezifische Kompetenzbereiche, die angesteuert werden sollen. Im Physikunterricht sind das: Fachwissen, Kommunikations-, Erkenntnisgewinnungs- und Bewertungskompetenz. In der Regel wird im Physikunterricht viel Wert auf das Fachwissen gelegt, wobei die anderen Kompetenzbereiche zu häufig vernachlässigt werden. Komplexe Lernaufgaben haben aber das Ziel, alle Kompetenzbereiche stärker in den Blick zu nehmen.

Insbesondere in einer Zeit gesellschaftlicher und globaler Herausforderungen spielt zum Beispiel die Bewertungskompetenz eine zentrale Rolle: Schülerinnen und Schüler müssen in der Lage sein, Informationen auch anhand ihres physikalischen Wissens einzuordnen und zu bewerten.

Erst darauf aufbauend können sie einen eigenen Standpunkt entwickeln. Aktuelle Themen wären hier: E-Mobilität, Energieversorgung oder die Klimakrise. Da bei komplexen Lernaufgaben ein Lernprodukt anzufertigen, zu präsentieren und zu reflektieren ist, wird nicht zuletzt auch die Kommunikationskompetenz gefördert.

Wie können Lehrkräfte mit komplexen Lernaufgaben differenzieren?

Mit einer guten Aufgabenstellung bringen Lehrkräfte eine ganze Klasse weiter, ganz gleich, ob sich die Kinder darin kaum für Physik interessieren, was natürlich schade wäre, oder sie sich sehr gut für das Fach begeistern können.

Meist genügen für eine gute Differenzierung schon drei verschiedene Anforderungsniveaus pro Lernaufgabe: etwas Einfaches, um die Bearbeitung anzuregen und Grundlagen zu schaffen, etwas Mittelschweres, das meist in Teamarbeit bewältigt wird und sich an den Regelstandards orientiert und etwas relativ Schwieriges für die potenziell leistungsstarken Kinder und Jugendlichen, die eine Herausforderung suchen.

Eine Binnendifferenzierung innerhalb dieser Aufgabenniveaus gelingt mit Hilfe von gestuften Lernhilfen. Für jede Aufgabe und jedes Niveau genügen drei bis fünf Stück. Wenn ich das multipliziere, dann bekomme ich schon ausreichend viele Differenzierungsmöglichkeiten für eine ganze Klasse zusammen. Das ist wirklich keine Zauberei.

Wie unterstützen Sie mit Ihrem Physik-Projekt die Lehrkräfte?

Wir erarbeiten gemeinsam komplexe Lernaufgaben, erproben und verbessern sie. Mit unserer Projektarbeit möchten wir eine auf Forschung und Praxis basierte Handreichung für komplexe Lernaufgaben erstellen, an der sich Lehrkräfte orientieren können. So etwas gibt es nämlich bislang nur in Ansätzen auf den Bildungsservern einzelner Länder oder in Fachzeitschriften.

Idealerweise führt unsere Arbeit bis zum Ende unserer Projektlaufzeit (Dezember 2022) zu einer Webseite, auf der wir komplexe Lernaufgaben speziell für den Physikunterricht, sortiert nach Schulform, Klassenstufe und Thema, sammeln. Davon könnten unbegrenzt viele Schulen profitieren, auch außerhalb von „Leistung macht Schule“.

Damit möchten wir den Lehrkräften zeigen, dass bei komplexen Lernaufgaben alles ineinander greift. Es handelt sich nämlich nicht – wie oft befürchtet – um einen Mehraufwand, sondern bloß um einen anderen: Die Vorbereitung solcher Aufgaben ist natürlich vielschichtiger, aber dafür müssen Lehrkräfte keinen „Vortrag“ für den Frontalunterricht vorbereiten und die Aufgabenbetreuung ist begleitend, nicht leitend.

Was verunsichert Lehrkräfte bei komplexen Lernaufgaben?

Ist eine Lehrkraft noch ungeübt in offeneren Lernumgebungen, dann kann es für sie anfangs so aussehen, als ob die Schülerinnen und Schüler nicht konzentriert arbeiten würden. Aber das tun sie in den meisten Fällen, nur anders. Sie überlegen laut und tauschen sich aktiv aus. Das ist nicht immer leise und im Raum herrscht viel mehr Bewegung.

Manche Lehrkräfte müssen erst lernen, das auszuhalten. Haben sie sich aber erst einmal an die neue Atmosphäre gewöhnt, dann empfinden die Lehrerinnen und Lehrer oft eine große Erleichterung mit komplexen Lernaufgaben. Unseren Lehramtsstudierenden an der Uni geht das übrigens genauso.

Welche Herausforderungen und welche Potenziale sehen Sie an Ihren Projektschulen und wie reagieren Sie darauf?

Die Ausgangslage ist an jeder Schule unterschiedlich: Manche sind in der Zusammensetzung ihrer Schülerschaft extrem heterogen mit einer begabungsförderlichen Ausrichtung, die noch in den Kinderschuhen steckt. Andere Schulen haben schon seit Jahrzehnten Erfahrung in der Begabungsförderung, von der wir lernen und worauf wir aufbauen können.

Die Förderung von potenziell leistungsstarken Kindern und Jugendlichen geschieht allerdings auch an den erfahrenen Schulen noch oft über Zusatzangebote wie Projekte, Arbeitsgemeinschaften, Wettbewerbe und Lerncamps, also weitgehend außerhalb des Regelunterrichts.

Manche Schulen wissen also schon sehr gut, wie sie potenziell Leistungsstarke außerhalb der eigentlichen Schulzeit fördern können, kommen aber im Regelunterricht nicht dazu?

Bei manchen Kindern ist die Begabung in bestimmten Fächern offensichtlich. Dann werden sie meistens einfach angesprochen: „Möchtest du nicht nachmittags in die Physik-AG oder zur „Jugend forscht“-Gruppe gehen?“. Bei diesen Zusatzangeboten machen die leistungsstarken Kinder oft ganz tolle Sachen. Das hilft aber nur den offensichtlich Leistungsstarken. Die übrigen Kinder und Jugendlichen, die es noch zu entdecken gilt, bleiben außen vor.

Außerdem ist es langfristig keine Lösung, ausschließlich Nachmittagsangebote anzubieten, und die leistungsstarken Schülerinnen und Schüler im eigentlichen Unterricht nur mit zusätzlichen Aufgaben zu belegen. Auch: „Mach doch schon mal deine Hausaufgaben!“ oder: „Guck dir doch im Buch das nächste Kapitel an!“ sind Arbeitsaufträge, die für leistungsstarke Schülerinnen und Schüler nichts als Langeweile bringen.

Hier setzt unser Projekt an. Um die unterschiedlichen Potenziale der Kinder und Jugendlichen zu erkennen und ihnen gerecht zu werden, möchten wir ihnen, gemeinsam mit den Lehrkräften, einen differenziert gestalteten Physikunterricht anbieten. Für uns steht die individuelle Entwicklung aller Schülerinnen und Schüler im Vordergrund und wenn wir erreichen können, dass an unseren Projektschulen Physik vielleicht bald nicht mehr eines der unbeliebtesten Fächer ist, dann wäre das ein sehr großer, schöner Schritt.

An welchem Punkt stehen Sie in der derzeitigen Zusammenarbeit mit den Schulen?

Bei der Jahrestagung von „Leistung macht Schule“ im letzten September hatten wir einen sehr intensiven Workshop. Gemeinsam mit acht Lehrkräften aus unterschiedlichen Fächern, mit unterschiedlichen Erfahrungswerten, haben wir in einem engen Zeitrahmen an einer komplexen Lernaufgabe für potenziell Leistungsstarke gearbeitet.

Darüber hinaus werden wir von unseren Studierenden an der Freien Universität (FU) Berlin unterstützt. Auch sie entwickeln im Rahmen von Bachelor- und Masterarbeiten komplexe Lernaufgaben. Zusammen mit den Lehrkräften erproben sie die Aufgaben dann im Unterricht an den Projektschulen und erkennen so sehr schnell, ob die Aufgabe wirklich für die eigenständige Bearbeitung von potenziell Leistungsstarken geeignet ist, oder ob die Schülerinnen und Schüler mehr Anleitung oder vielleicht anderes Material brauchen.

Mit Hilfe von Evaluierungsbögen halten wir die Ergebnisse fest und werten sie aus, um die Aufgaben langfristig verbessern zu können.

Schulpraxis und Forschung arbeiten also sehr eng zusammen. Wirkt sich „Leistung macht Schule“ auch darüber hinaus auf Ihre Forschung aus? Was haben Sie sich bis zum Ende des Physik-Projekts noch vorgenommen?

Motiviert von „Leistung macht Schule“ wollen wir herausfinden, was die Lehrkräfte unserer Projektschulen an ihrer eigenen Ausbildung geschätzt haben und was ihnen fehlte. Deshalb befragen wir sie zu den Inhalten ihres Studiums, mit dem Fokus auf Differenzierung, Begabungsdiagnose und -förderung im Regelunterricht. Parallel dazu wird an unserer Uni eine Lehrveranstaltung konzipiert, die die möglichen Lücken füllt. Wir hoffen, dass wir die Lehrveranstaltung bereits im Sommer anbieten können.

Mit ihr würden sich die angehenden Physiklehrkräfte an der FU Berlin schon in der Ausbildung mit dem Thema „Begabung und Heterogenität im Physikunterricht“ auseinandersetzen. In einer Begleitstudie werden wir überprüfen, ob die Studierenden dabei wirklich etwas dazulernen. Und es wäre natürlich ein tolles Ergebnis für unsere Forschungs- und Entwicklungsarbeit, wenn wir nachweisen könnten, dass künftige Lehrkräfte schon in ihrer Ausbildung lernen, begabungsdifferenziert zu unterrichten.

Außerdem möchten wir in der Projektlaufzeit noch die physikinteressierten Schülerinnen und Schüler zu Wort kommen lassen. Vielleicht stellt sich bei einer Befragung an unseren Projektschulen zu ihren individuellen Fördermaßnahmen heraus, dass sie ganz andere Formate bevorzugen würden oder als wirksamer empfinden, als das, was ihnen bis dato angeboten wird.

Herr Doktor Dohrmann, gibt es ein physikalisches Phänomen, das Sie persönlich besonders fasziniert?

Der Klimawandel. Wir bieten an der Uni ein Lehr-Lern-Labor zum Thema „Klimawandel im Physikunterricht“ an, das wir auch bei der „Langen Nacht der Wissenschaften“ in Berlin präsentiert haben. Unsere Experimente dazu sind größtenteils qualitativ orientiert. Sie verdeutlichen die Physik, die hinter Klimaphänomenen steckt, aber in einem kleinen, verständlichen Rahmen.

Das Faszinierende an unseren mitgebrachten Experimenten war, dass fast alle Grundschulkinder, die zu uns kamen, sofort verstanden haben, worum es geht. Ihren Großeltern haben sie daraufhin erklärt, wie bestimmte Aspekte des Klimawandels funktionieren. Und die waren – offensichtlich – ganz schön beeindruckt von ihren Enkelinnen und Enkeln.

Herr Doktor Dohrmann, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Dr. René Dohrmann

Aus Potsdam stammend hat René Dohrmann an der Universität seiner Heimatstadt sowie an der Clarkson University im Bundesstaat New York (USA) im Lehramtsstudiengang Physik und Geografie studiert. In der Didaktik der Physik ist er 2019 promoviert worden. Seit 2014 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Physik an der Freien Universität Berlin. René Dohrmann beschäftigt sich mit der Lehr-Lern-Forschung zur Didaktik der Physik sowie mit der Lehrkräftebildung in Lehr-Lern-Laboren. Im Projekt „K2teach“ der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ koordiniert er Lehr-Lern-Labore und entwickelt sie weiter. Als Redakteur betreut er die onlinebasierte Fachzeitschrift „PhyDid – Physik und Didaktik in Schule und Hochschule“.

Für „Leistung macht Schule“ arbeitet er gemeinsam mit Professor Dr. Volkhard Nordmeier im Physik-Projekt.