Wie Grundschulkinder im Sachunterricht zu Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern werden

Die Lehrerin Sabrina Schlecht und die Forschenden Hilde Köster und Tobias Mehrtens haben ein Unterrichtskonzept entwickelt, mit dem Schulkinder ihren eigenen Forschungsfragen gezielt nachgehen. Das führt zu erstaunlichen Entwicklungsschritten.

Kinder experimentieren in Schule

Grundschulkinder mischen im Sachunterricht Flüssigkeiten und gehen damit ihren eigenen Fragestellungen nach.

Grundschule Nordholz, Sabrina Schlecht

Frau Professor Köster, Frau Schlecht, Herr Mehrtens, mit Ihrem Unterrichtskonzept experimentieren Schülerinnen und Schüler im Sachunterricht nach ihren eigenen Interessen (Schwerpunkt MINT). Dabei können ihre Potenziale besser erkannt und gefördert werden.

Wie beschreiben Sie Ihre Projektziele?

Köster: Wir wollen Potenziale bei Kindern in der Kita und im Sachunterricht der Grundschule finden und fördern – vor allem im naturwissenschaftlich-technischen und informatischen Bereich. Unser Konzept ist das Freie Explorieren und Experimentieren (kurz FEE), das mit wenig Aufwand in jedem Klassenraum umsetzbar ist. Damit bieten wir den Kindern Lernumgebungen, in denen sie ihren eigenen Interessen nachgehen und so ihre Fähigkeiten zeigen und ausbauen können. Daran mangelt es an Kitas und Schulen noch oft.

Für das Projekt DiaMINT entwickeln Forschende und Lehrkräfte Diagnose- und Förderkonzepte für die Übergänge von der Kita in die Grundschule und von der Grundschule in die weiterführende Schule. Mithilfe einer prozessbezogenen Diagnostik werden die fachlichen Kompetenzen der Kinder berücksichtigt und lernförderliche Einflussfaktoren identifiziert. Darüber hinaus ermöglichen neu entwickelte Lernarrangements ein selbstbestimmtes Lernen. Auf diesen Aspekt und seine Wirkung konzentriert sich dieses Interview.


Frau Schlecht, welche Grundvoraussetzungen müssen Sie als Lehrerin schaffen, um die FEE-Stunden umzusetzen?

Schlecht: Ich muss zunächst meine Haltung als Lehrerin und mein Verständnis von Unterricht hinterfragen. Wir sollten heute Lernbegleiterinnen und Lernbegleiter sein und uns fragen: Was brauchen Kinder zum Lernen und wie lernen sie? Aus ihren eigenen Interessen heraus entwickeln sie die beste Motivation, sich mit bestimmten Themen intensiv zu beschäftigen. Das klappt eben nicht mit einem klassischen Arbeitsblatt, in dem der Weg vorgegeben ist. Dafür muss ich meinen Unterricht umorganisieren, meine Zeit anders einteilen und anders mit den Kindern umgehen.

Was meinen Sie mit einer anderen Zeiteinteilung und Umorganisation des Unterrichts?

Schlecht: Vielerorts dauern Schulstunden noch 45 Minuten und im Unterricht gibt es eine Einstiegsfrage, eine Erarbeitungsphase und am Ende steht ein Ergebnis. Aber Lernen funktioniert nicht so geradlinig. Kinder sollten vielmehr möglichst früh die Erfahrung machen, dass es völlig normal ist, zu unterschiedlichen Ergebnissen zu kommen. An unserer Schule eröffnen wir größere Zeitfenster und nutzen ansprechende Materialien, damit die Kinder sich auf ihre Themen einlassen können. Als Lehrkraft kann ich dabei genau beobachten, wie einzelne Kinder lernen und welchen Fragestellungen sie nachgehen, die sie in diesem Alter oft noch nicht aussprechen. Dabei kann ich sie unterstützen, damit sie sich besser erklären können. Allerdings darf ich dabei nie eine Richtung vorgeben.

Haben Sie in den FEE-Stunden schon leistungsstarke Kinder entdeckt, die Sie vorher noch nicht wahrgenommen hatten?

Schlecht: Ja, wir haben einige Kinder entdeckt, bei denen wir vom Lerntyp her nicht unbedingt damit gerechnet hätten. Aber ohne Zeitdruck und mit ihren eigenen Fragestellungen sind einige Schülerinnen und Schüler richtig aufgeblüht.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Schlecht: Einer meiner Schüler ist sehr zurückhaltend. Er hat sich lange Zeit mit einem Thermometer beschäftigt. Wir Lehrkräfte müssen uns in solchen Situationen, in denen es scheinbar kaum weitergeht, zurücknehmen. Mit der Zeit hat sich dieser Junge selbst erklärt, wie ein Thermometer funktioniert. Mithilfe von Schnee hat er herausgefunden, dass der Nullpunkt eine ganz entscheidende Rolle spielt. Ich konnte dabei lernen, dass dieser Schüler seine Versuche nur minimal verändert, alles sehr genau beobachtet und daraus kluge Rückschlüsse zieht. Derselbe Schüler hat sich kurze Zeit später mit Magnetismus beschäftigt und sich das System der Pole völlig eigenständig erklärt.

Warum ist es so wichtig, gerade Grundschulkinder frei explorieren zu lassen?

Köster: Grundsätzlich sind alle Kinder neugierig und möchten etwas über ihre Umwelt erfahren. Darin dürfen sie nicht beschränkt werden. Wir haben Einblicke – sogar in Vorschul-Stunden von Kitas – in denen die Kinder an Tischen sitzen und Arbeitsblätter ausfüllen müssen. Da sie noch nicht schreiben können, sind das meistens Ausmaltätigkeiten. Und das geschieht zu einer Zeit in der kindlichen Entwicklung, in der das Gehirn eine Art Hochleistungsmaschine ist, die eigentlich alles erfassen möchte, was um sie herum wahrzunehmen ist. Mit einem solchen Vorgehen vergeuden Erzieherinnen und Lehrkräfte ganz viel Energie und lassen große Potenziale ungenutzt.

Und dem wollen sie mit dem FEE-Konzept entgegenwirken?

Köster: Ja. Beim FEE sammeln Kinder vielfältige neue Erfahrungen. Daraus entwickeln sie eigene Fragestellungen, denen sie dann mit viel Zeit und großer Konzentration forscherisch nachgehen. Und weil geeignete Materialien dafür in unseren teilnehmenden Kitas und Schulen oft fehlten, haben wir FEE-Experimentier-Sets entwickelt.

Wie können wir uns die FEE-Sets vorstellen?

Mehrtens: Mit den FEE-Startersets bieten wir Forschungswerkzeuge an, mit denen die Kinder viele Phänomene in ihrer Umwelt erforschen und beobachten können. Damit sind die Schulen unabhängig von ihren finanziellen Mitteln oder jenen der Eltern des Einzugsgebietes. Für potenziell leistungsstarke Kinder, die sich tiefgreifender mit einem für sie spannenden Thema auseinandersetzen möchten, haben wir FEE-Spezialisierungssets zu Themen wie Magnetismus, Mechanik oder Tiere und Pflanzen entwickelt.

Schlecht: Die Sets beinhalten Alltagsgegenstände, wie Holzstäbchen oder Strohhalme, aber auch „wissenschaftliche“ Laborgegenstände, wie kleine Petrischalen, Reagenzgläser, Pipetten und Pinzetten. Auch ein Binokular und Lupen sind feste Bestandteile. Solche Dinge regen den Forscherdrang besonders gut an und zeigen den Kindern, dass sie ernst genommen werden. Allerdings funktioniert das nur, wenn die Kinder sie auch wirklich frei anwenden dürfen, ohne jegliche Einschränkung.

Junge über einer Petrischale

Die FEE-Sets beinhalten unter anderem Petrischalen, Pinzetten, Pipetten und Reagenzgläser. Damit können Kinder besonders gut forschen und ihre Umwelt entdecken.

Grundschule Nordholz, Sabrina Schlecht

Und was machen die Schülerinnen und Schüler dann damit? Was beobachten Sie?

Schlecht: Viele Kinder mischen intensiv mit ihren eigenen Händen und erwerben damit ganz grundlegende Erfahrungen und Fertigkeiten, die oft noch fehlen. Sie prüfen genau, ob bestimmte Reaktionen oder Situationen mit verschiedenen Materialien immer wieder auftauchen. Zum Beispiel werden Steine von Kindern mit einer beeindruckenden Akribie erforscht. Früher oder später überprüfen sie, ob Steine sinken oder schwimmen und fangen an, sie zu klassifizieren: nach Größe, Gewicht und Eigenschaften.

Dabei beobachte ich viele unterschiedliche Lerntypen und jede Schülerin und jeder Schüler hat ihre oder seine Schwerpunkte. Vor allem aber arbeiten die Kinder hochkonzentriert. Sie entwickeln eine innere Ruhe beim Forschen und ihre Beobachtungsgabe verbessert sich. Sie gehen sogar ungern in die Pause.

Köster: Die Kinder entwickeln ihre Forschungsfragen selbst. Sie können sie über einen langen Zeitraum verfolgen oder auch verwerfen und anpassen, wenn sich ihr Fokus ändert. An der Grundschule Nordholz habe ich erlebt, wie Kinder verlassene Vogelnester untersucht haben – und das nahezu ehrfürchtig. Sie haben die Nester „Kunstwerke“ genannt und hatten viele Fragen: Was sind das für Materialien? Wie sind sie miteinander verwoben und was hat sich der Vogel dabei gedacht? Für manche Kinder genügte es, sich diese Fragen zu beantworten. Andere haben Materialien gesammelt, die Nester nachgebaut und verbessert. Sie interessierten sich für technische Aspekte und erbrachten eine kreative Ingenieursleitung. Das war sehr beeindruckend.

Das klingt nach einem ausbaufähigen Erfolgsmodell. Was sagen die Kolleginnen und Kollegen in der Schule dazu?

Schlecht: Sie fanden die begeistert und konzentriert arbeitenden Kinder so überzeugend, dass sie nun auch in ihren Stunden frei explorieren und experimentieren. Und die Kinder würden am liebsten nur noch FEE machen. Sie haben nicht nur den Nachbarklassen davon erzählt, sondern auch die Elternschaft mit ins Boot geholt. Dadurch hat sich letztlich die Grundhaltung an unserer Schule verändert.

Und was würden Sie Lehrkräften von anderen Schulen entgegnen, wenn diese sagen: „Aber die Freiheit haben wir Lehrkräfte doch gar nicht. Wir müssen die Lehrpläne und Curricula abarbeiten, ob wir wollen oder nicht.“?

Mehrtens: Nach heutigen Curricula sollen Lehrkräfte vor allem kompetenzorientiert unterrichten. Wenn wir das für FEE „übersetzen“, dann sehen wir ganz viele Kompetenzbereiche, die sich bei den Kindern sogar schneller entwickeln als im herkömmlichen Unterricht. Gleichzeitig werden die obligatorischen Inhalte aus den Lehrplänen trotzdem bearbeitet. Das wird an der Grundschule Nordholz zum Beispiel an den sogenannten Lernlandkarten sichtbar, also an einer dort genutzten Dokumentationsart.

Schlecht: Tatsächlich drehen sich die Forschungsfragen der Kinder um die zentralen Inhalte unserer Fächer, die in den Curricula festgehalten sind. Lehrkräfte sollten sich frei machen von scheinbaren Einschränkungen. Letztlich geben uns die Curricula, ganz gleich ob in Niedersachsen oder in einem anderen Bundesland, viele Möglichkeiten. Lehrkräfte und Schulen könnten viel selbstbewusster agieren. Dafür ist die Zusammenarbeit mit einer Universität, so wie bei uns mit „Leistung macht Schule“, sehr hilfreich.

Frau Köster, Frau Schlecht, Herr Mehrtens, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Prof. Dr. Hilde Köster

Seit 2011 ist Hilde Köster Professorin für Grundschulpädagogik und Didaktik des Sachunterrichts an der Freien Universität Berlin. Davor war sie mehrere Jahre als Grundschullehrerin tätig. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der Förderung besonderer Potenziale bei Kindern in den Bereichen Naturwissenschaften, Technik und Informatik sowie mit der Professionalisierung angehender Grundschullehrkräfte.

Wissenschaftlicher Mitarbeiter Tobias Mehrtens

Tobias Mehrtens hat an der Freien Universität Berlin für das Lehramt an Grundschulen die Fächer Deutsch, Mathematik und Sachunterricht in Verbindung mit Naturwissenschaften studiert und als Master of Education abgeschlossen. Seit 2018 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter für „Leistung macht Schule“ im Projekt DiaMint.

Lehrerin Sabrina Schlecht

Seit 2006 unterrichtet Sabrina Schlecht an der Grundschule Nordholz. Sie hat in Hannover Mathematik, Sachunterricht und Werken studiert. Ihre Auslandsaufenthalte in Schweden und Mexico gaben ihr Einblicke in andere Schullandschaften und Lernumgebungen. Sie ist an mehreren Schulentwicklungsprojekten beteiligt und setzt an ihrer Schule eine tiergestützte Pädagogik mit einem Schulhund um.