Schulen lernen von Schulen: Neue Schulen für die Lesson-Study-Methode begeistern
Schulleiterin Kathrin Obenhaus hat einen Hospitationstag für interessierte Schulen der zweiten Phase angeboten. Sie und Professorin Miriam Vock sprechen darüber, wie Schülerinnen und Schülern von der Lesson-Study-Methode profitieren, während die Arbeit im Team die Lehrkräfte gleichzeitig entlastet.

Die Teamarbeit bei der Lesson-Study-Methode entlastet die einzelnen Lehrkräfte und macht nebenbei auch noch Spaß
baranq / Adobe Stock
Frau Professorin Vock, wir haben bereits während der ersten Phase von „Leistung macht Schule“ ein ausführliches Gespräch über die Lesson-Study-Methode zur Unterrichtsentwicklung geführt. Deshalb hier nur kurz: Wie funktioniert diese Methode?
Vock: Lesson Study ist eine Methode zur kooperativen Unterrichtsentwicklung, bei der ein Lehrkräfteteam jeweils in vier Schritten gemeinsam Unterricht entwickelt. Im ersten Schritt einigen sich die Lehrkräfte auf eine Herausforderung in ihrer Unterrichtsentwicklung, mit der sie sich gemeinsam beschäftigen wollen. Dann recherchiert das Team zu dieser Fragestellung und plant eine Unterrichtsstunde. In Schritt drei wird diese Stunde von einem Teammitglied gehalten. Das übrige Team beobachtet das Lernverhalten einzelner Schülerinnen und Schüler sehr detailliert und systematisch. In der anschließenden Auswertungsphase reflektiert das Team, wie die verschiedenen Schülerinnen und Schüler auf das gemeinsam geplante Konzept reagiert haben, wie gut es funktioniert hat und was verbessert werden kann.
Das Besondere an der Methode ist, dass sie einerseits eine sehr klare Struktur vorgibt – die Lehrkräfte wissen nach einer kurzen Einführung genau, was sie wann im Prozess tun müssen. Gleichzeitig bietet Lesson Study ein hohes Maß an Freiheit, inhaltlich an dem zu arbeiten, was für das Team wirklich relevant ist. So können sie ohne Umwege ganz konkret an ihren dringlichen Fragestellungen arbeiten. Im Rahmen von „Leistung macht Schule“ liegt der Fokus darauf, Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, ihre Potenziale zu entfalten und angemessen gefordert zu werden.
Frau Obenhaus, Sie wenden Lesson Study bei sich an der Schule an. Wie hilft die Methode Ihnen und Ihren Lehrkräften?
Obenhaus: Das tut sie gleich in mehrfacher Hinsicht! Wir machen die Lesson-Study-Unterrichtsstunden immer zum Teil des schulinternen Curriculums. Damit bündeln wir Ressourcen und die aufwendig vorbereiteten Unterrichtsstunden stehen dem gesamten Kollegium zur Verfügung.
Für die Lehrkraft, die die gemeinsam geplante Stunde hält, ist die anschließende Analyse des Lernverhaltens der Kinder extrem wertvoll. Ich selbst habe auch eine solche Stunde gehalten. Die Auswertung war ein richtiges Aha-Erlebnis. Man bekommt so detaillierte Informationen zur Wirkung des Unterrichts auf die einzelnen Schülerinnen und Schüler, wie man sie selbst beim Unterrichten niemals erfassen kann. In der Reflexionsphase analysieren wir außerdem, wo wir nachbessern können. Bei uns entsteht dann auch meist gleich die nächste Forschungsfrage und ein neuer Prozess beginnt.
Die Lesson-Study-Methode für Lernende und Lehrende
Ein Interview mit Professorin Miriam Vock und Doktorin Anne Jurczok

Bereits vor der Transferphase ist die Lesson-Study-Methode im Rahmen von „Leistung macht Schule“ weiterentwickelt und erprobt worden. Wie genau Lesson Study funktioniert und wie Schülerinnen und Schüler sowie Lehrende davon profitieren, lesen Sie im vollständigen Interview mit den Wissenschaftlerinnen Miriam Vock und Anne Jurczok von 2019.
Die Einführung der Methode war sehr erfolgreich und sie ist ein echter Gewinn für unsere Schule. Deshalb übertragen wir die Methode in diesem Schuljahr in alle Jahrgangsteams. Die sieben Lehrkräfte des ursprünglichen Teams haben sich aufgeteilt und leiten nun in den Jahrgangsteams die Prozesse an. Ziel ist, dass die Methode anschließend vollständig bei uns etabliert ist.
Vock: Genau so einen innerschulischen Transfer brauchen wir zusätzlich zum Transfer der Methode an neue Schulen: Wir müssen Lesson Study vom Kernteam ausweiten, so dass es eine Methode wird, über die die gesamte Schule verfügen kann. Denn es besteht immer die Gefahr, dass etwas Neues wieder einschläft, wenn beispielsweise einzelne Personen die Schule verlassen. Dieses Verteilen auf viele Schultern ist sehr wichtig.
Frau Vock, in der zweiten Phase von „Leistung macht Schule“ werden nun Hospitationstage zur Lesson-Study-Methode angeboten. Was versprechen Sie sich davon?
Vock: Um die Lesson-Study-Methode kennenzulernen, ist es ideal, an einer Schule zu hospitieren und den Prozess dort in der Praxis zu erleben. So bekommt man einen Eindruck, wie eine idealtypische Unterrichtsstunde und die anschließende gemeinsame Reflexion ablaufen. Man kann den erfahrenen Kolleginnen und Kollegen über die Schulter schauen und direkt Fragen stellen. Auch international werden Hospitationen zum Einstieg in Lesson Study genutzt.
Wie lief der Hospitationstag bei Ihnen an der Schule ab, Frau Obenhaus?
Obenhaus: Wir haben unseren Besucherinnen und Besuchern die geplante Unterrichtsstunde und die anschließende Auswertungsphase gezeigt. Unsere Gäste waren sowohl Lehrkräfte und Schulleitungen von Schulen aus verschiedenen Bundesländern als auch Mitarbeitende der Universität Potsdam und Personen aus Landesinstituten beziehungsweise Qualitätseinrichtungen der Länder. Sie werden die Methode anschließend weitertragen.
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass Lehrkräfte und Schulleitungen viel stärker davon profitieren, wenn sie eine Methode nicht nur theoretisch kennenlernen, sondern sie praktisch erleben können. Es bringt viel mehr, wenn ich mir etwas vor Ort anschauen und auch gleich ins Gespräch kommen kann. Hospitationstage sind zentral für den Transfer.
Die Grundschule „Thomas Müntzer“
An der Grundschule werden die Kinder von der ersten bis zur sechsten Klasse unterrichtet. Als verlässliche Halbtagsschule bietet die Schule, gelegen in Blönsdorf, einem Ortsteil von Niedergörsdorf in Brandenburg, den Kindern aus ihrem großen Einzugsgebiet ein vielseitiges und umfassendes Angebot. Die Schule versteht sich als „Haus der Vielfalt“ und stellt das Kind in seiner Individualität und Besonderheit in den Mittelpunkt. Die vielfältigen Potenziale der Schülerinnen und Schüler nehmen die Lehrkräfte besonders auch im Rahmen der Teilnahme an „Leistung macht Schule“ in den Blick. Mehr Informationen zur Schule finden Sie auf ihrer Website.
Frau Vock, Mitglieder Ihres Teams waren bei diesem Hospitationstag anwesend. Was haben sie berichtet?
Vock: Sie waren begeistert. Der Tag hat unsere Überzeugung bestätigt, dass solche Hospitationstage sehr wichtig sind. Für die Schule, die das anbietet, bedeutet dies natürlich organisatorischen Aufwand. Und es erfordert auch etwas Mut, sich als Schule zu öffnen, die eigene Arbeit zu zeigen und sich den Fragen der Gäste zu stellen. Aber es bestärkt die Lehrkräfte auch, wenn Kolleginnen und Kollegen von anderen Schulen kommen und positives Feedback geben.
Dieser Tag hat die Motivation aller Teilnehmenden erhöht. Sie nehmen nicht nur neue Erkenntnisse mit, sondern erleben die Atmosphäre und bekommen einen Eindruck davon, was machbar ist und was sie auch an ihrer Schule erreichen können.
Wie waren die Rückmeldung der Teilnehmenden vor Ort, Frau Obenhaus?
Obenhaus: Durchweg positiv! Manche fragten sich, wie sie ihr Team bei der Einführung von Lesson Study mitnehmen können. Wir konnten ihnen vermitteln, dass unsere Erfahrung zeigt, dass man mit den Motivierten anfangen und die Methode später auf einen größeren Kreis ausdehnen kann: Wir haben mit sieben Lehrkräften begonnen und jetzt sind tatsächlich alle 40 Kolleginnen und Kollegen dabei.
Den Schulleitungen möchte ich mit auf den Weg geben, dass wir in unserer Rolle die Einführung der Methode strukturell unterstützen müssen. Bei uns haben die Teams grundsätzlich immer zur selben Zeit eine Freistunde, in der sie gemeinsam planen, recherchieren, den Unterricht entwickeln und in der auch die Stunde gehalten wird. Wir Schulleitungen müssen schauen, dass die Kolleginnen und Kollegen nicht das Gefühl haben, noch etwas „on top“ tun zu müssen, sondern erleben, dass es für sie wirklich ein Gewinn ist.
Frau Vock, wie unterstützen Sie die Einführung von Lesson Study an den neuen Schulen über die Hospitationen hinaus?
Vock: Eine wichtige Rolle spielen Multiplikatorinnen und Multiplikatoren. Das sind zum einen Lehrkräfte, die in der ersten Phase schon mit uns gearbeitet und Erfahrungen gesammelt haben, und zum anderen Mitarbeitende von Landesinstituten beziehungsweise Qualitätseinrichtungen der Länder. Auch neu dazugekommene Lehrkräfte sind dabei.
Um diesen unterschiedlichen Personengruppen gerecht zu werden, nutzen wir ein modulares Fortbildungskonzept, mit dem wir sie auf ihre Aufgabe vorbereiten und sie dabei begleiten. Im Rahmen der LemaS-Jahrestagung fand ein Workshop in Präsenz statt. Zusätzlich gibt es regelmäßige Online-Seminare. Und wir bieten Sprechstunden an, in denen wir individuell auf Fragen eingehen.
Wir verwenden das bereits in der ersten Phase von „Leistung macht Schule“ entwickelte Material für die Einführung der Methode: Erklärvideo, Handbuch und Brettspiel. Damit können jetzt auch die Multiplikatorinnen und Multiplikatoren arbeiten, wenn sie neue Teams anleiten. Ergänzend haben wir Material speziell dazu entwickelt, wie man ein neues Team aufbaut und die Reflexionsphase in den Teams gut anleitet.

Spielfeld des Brettspiels zu Lesson Study: Beim Spielen lernen die Lehrkräfte die Lesson-Study-Methode Schritt für Schritt kennen
LemaS TP22 - Universität Potsdam
Wie werden die Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, die Sie gerade ausbilden, dann tätig werden?
Vock: Ihre Aufgabe ist, das zu übernehmen, was wir als Uni-Team in der ersten Phase von „Leistung macht Schule“ gemacht haben. Die Multiplikatorinnen und Multiplikatoren werden zuerst die Methode vorstellen und erklären. Dann begleiten sie die neu gebildeten Lesson-Study-Teams. Ein Multiplikator oder eine Multiplikatorin kann an verschiedenen Schulen die ersten Prozesse begleiten, damit die Lesson-Study-Methode dort hoffentlich genauso erfolgreich Fuß fasst wie an der Schule von Frau Obenhaus.
Was muss an einer Schule gegeben sein, damit die Einführung der Lesson-Study-Methode gelingt?
Vock: Wichtig ist, mit Neugier an diese Methode heranzugehen, also motiviert zu sein, etwas Neues auszuprobieren. Dann braucht man ein kleines Team aus Personen, die gut miteinander auskommen. Wenn diese Personen im gleichen Jahrgang oder das gleiche Fach unterrichten, kann das hilfreich sein, ist aber nicht zwingend notwendig. Wichtiger ist, dass sie gerne zusammenarbeiten. Außerdem ist die Unterstützung durch die Schulleitung zentral. Ohne eine Schulleitung, die sagt: „Wir wollen an unserer Schule mit Lesson Study arbeiten und ich unterstütze mein Team!“, wäre es sehr schwer.
Nahezu alle Schulen stehen vor Herausforderungen. Immer wieder hören wir: „Wir haben keine Zeit!“ und „Wir haben zu wenig Personal!“ Aber wir sehen, dass es Wege gibt, Lesson Study auch unter diesen erschwerten Bedingungen zu etablieren. Man muss einfach mutig ist sein und sagen: „Wir probieren das jetzt aus.“ Und wenn die Kolleginnen und Kollegen den Prozess ein paarmal durchlaufen haben, erleben sie, dass das eine Investition ist, die sich lohnt. Wenn das passiert, dann wird es, wie Frau Obenhaus es von ihrer Schule berichtet hat, zum Selbstläufer.
Frau Obenhaus, was möchten Sie den Schulen mitgeben, die die Methode jetzt neu anwenden?
Obenhaus: Weil gemeinsam geplant und vorbereitet wird, ist es tatsächlich eine Methode zur Entlastung der Lehrkräfte. Es entsteht eine Ideenbörse. Die Best-Practice-Beispiele werden in das schulinterne Curriculum für geplante Stunden aufgenommen und weiter genutzt. Die Methode bietet so viele Vorteile! Aber die Lehrkräfte müssen es selbst erfahren und deshalb sage ich immer: "Probiert es aus und ihr werdet feststellen, dass ihr nebenbei auch noch Spaß habt!"
Vock: Das ist ein wunderbares Schlusswort. Ich würde mir wünschen, dass möglichst viele den Nutzen der Methode erkennen und beispielsweise auch die Aufsichtsbehörden Schulen darin unterstützen, solche Hospitationstage zu besuchen bzw. zu organisieren, weil das so wertvoll für die Unterrichtsentwicklung an den einzelnen Schulen ist.
Frau Obenhaus, Frau Professorin Vock, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Professorin Dr. Miriam Vock
Die Psychologin Miriam Vock leitet an der Universität Potsdam den Arbeitsbereich Empirische Unterrichts- und Interventionsforschung. Dort bildet sie zukünftige Lehrerinnen und Lehrer in den Bereichen Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik aus. In ihrer Forschung befasst sie sich mit Hochbegabungs- und Begabungsförderung, mit Lesson Study und Lehrkräftekooperation und mit dem differenzierten Unterrichten. Miriam Vock ist zudem Initiatorin des Refugee Teachers Program an der Universität Potsdam, das geflüchteten Lehrerinnen und Lehrern einen beruflichen Wiedereinstieg in Deutschland ermöglicht.
Kathrin Obenhaus
Kathrin Obenhaus leitet die Grundschule „Thomas Müntzer“ in Blönsdorf seit 2016. Zuvor war sie kommissarische Schulleiterin der Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen in Jüterbog. Sie hat an der Pädagogischen Hochschule in Erfurt Grundschullehramt für Mathematik, Deutsch, Ethik und Sachkunde studiert. Bereits während ihres Studiums hat sie im Bereich der Begabungsforschung mit Professor Friedhelm Käpnick zusammengearbeitet. Ihre Schullaufbahn begann sie als Lehrerin an einer Förderschule. Berufsbegleitend hat sie dann sowohl an der Universität Potsdam Lehramt für die Sekundarstufe 1 für Mathematik, Deutsch und Lebensgestaltung Ethik Religionskunde als auch an der Humboldt-Universität zu Berlin Sonderpädagogik für Emotionale/Soziale Entwicklung und Lernbehinderung studiert.