Selbstreguliertes Lernen wirkt – über den Schulhof hinaus: Ein Blick in die LVR Anna-Freud-Schule in Köln

Kinder und Jugendliche lernen an der LVR Anna-Freud-Schule interessengeleitet und selbständig. Im Schulnetzwerk wird das Erfolgskonzept an andere Schulen weitergegeben.

Kinder im Unterricht

 Christian Schwier – stock.adobe.com

Die Lehrerin Anne Krahforst führt durch die lichtdurchfluteten Flure der LVR-Anna-Freud-Schule in Köln, wo begrünte Innenhöfe kleine Klassenräume flankieren. In der Regel gehen etwa zehn Schülerinnen und Schüler in eine Klasse der Förderschule, damit sie bestmöglich lernen und dabei gut begleitet werden können. „Nur ein sehr kleiner Anteil unserer Schülerschaft hat keinen Förderbedarf; wir leben Inklusion sozusagen in umgekehrter Form“, erklärt Anne Krahforst lächelnd. Sie spricht über die körperlichen Einschränkungen, mit denen viele ihrer Schülerinnen und Schüler umgehen müssen, weshalb Therapiestunden fest in den Stundenplan integriert sind.

„Freie Vorhaben“ für das selbstregulierte Lernen

Am Mittwoch gibt es an der Anna-Freud-Schule den sogenannten Skill-Tag, an dem die Kinder und Jugendlichen selbstorganisiert und nach eigenen Interessen lernen dürfen. Der herkömmliche Stundenplan wird dafür ausgesetzt. Stattdessen erarbeiten sich die Schülerinnen und Schüler das Wissen mal anders (siehe Infokasten). „Mit den ‚Freien Vorhaben‘ möchten wir die Selbständigkeit unserer Schülerinnen und Schüler stärken und ihre Verantwortlichkeit für den eigenen Lernerfolg fördern“, erklärt die Schulleiterin Elke Goldschmidtböing.


Die Skill-Tage und die „Freien Vorhaben“ an der Anna-Freud-Schule

Die Skill-Tage sind in drei Bausteine aufgeteilt. Darunter sind die „Freien Vorhaben“, die auf dem diFF-Projekt (diFF = diagnosebasiertes individualisiertes Fordern und Fördern) von „Leistung macht Schule“ basieren. Bei diesem Baustein wählen die Kinder und Jugendlichen ein für sie interessantes Thema aus und bearbeiten es selbstorganisiert sieben Wochen lang. Abschließend präsentieren sie ihre Forschungsergebnisse vor der Schulgemeinschaft.

Das geschieht mit PowerPoint-Präsentationen, Plakaten, Live-Präsentationen oder auch Versuchen. Der Fortschritt wird in einem Lerntagebuch dokumentiert. Die Themen selbst sind denkbar vielseitig: Sie lernen Cello zu spielen, einen eigenen YouTube-Kanal einzurichten, eine Eismaschine zu bauen oder ein Nahrungsergänzungsmittel herzustellen.

Derzeit werden die „Freien Vorhaben“ in den Jahrgangsstufen 5 bis 10 realisiert. Bald sollen sie auf die Oberstufe ausgeweitet werden. Die Klassenverbände bleiben während der Skill-Tage bestehen, weil die Klassenlehrpersonen ihre Schülerinnen und Schüler gut kennen und sie so bestmöglich unterstützen können. Zusätzlich sind Fachlehrpersonen für Werken, Chemie, Physik und Musik in den Fachräumen ansprechbar.

Strukturell war es gar nicht so einfach, einen ganzen Skill-Tag an der Schule einzurichten, erinnert sich die Schulleiterin. Es sei durchaus ein längerer Prozess gewesen, in den das ganze Kollegium eingebunden wurde. „Wir wussten zwar, dass wir die Eigenständigkeit unserer Schülerschaft fördern wollten, aber in welchem Format, das stand noch nicht fest. Unser Start war eine Klausurtagung mit einer Projektgruppe.“

„Es gab einige Diskussionen mit dem Kollegium, weil die Stunden umverteilt werden mussten, aber der Aufwand hat sich auf jeden Fall gelohnt.“

Elke Goldschmidtböing

Die beteiligten Lehrpersonen waren sich schnell einig, dass ein klassisches Förderband, das als Unterrichtsstunde zwar mehrmals pro Woche stattfindet, aber jeweils nur einstündig, nicht ausreichend sei. Ihre Lösung sollte ein ganzer Tag sein, denn nur so würde einer Schülerschaft mit Förderbedarf tatsächlich genug Zeit und Raum zur individuellen Entfaltung geboten.

Bis zur dauerhaften Einführung der Skill-Tage sollten jedoch noch mehrere pädagogische Tage und ein Pilotprojekt vergehen. „Vor allem den Stundenplan hatte ich im Aufwand unterschätzt,“ erinnert sich Elke Goldschmidtböing lachend. „Ich war gerade Schulleiterin geworden und musste das neue Konzept quasi selbst ausbaden. Es gab einige Diskussionen mit dem Kollegium, weil die Stunden umverteilt werden mussten, aber der Aufwand hat sich auf jeden Fall gelohnt.“

Collage von iPad mit Logo und Proteinpulver

Im iPad zeigen die Schüler Jesper und Peebe Fotos von ihrem Versuchsaufbau und das selbst entworfene Logo für ihr Proteinpulver.

DLR Projektträger

Jesper und Peebe entwickeln ein Nahrungsergänzungsmittel

Jesper und Peebe lernen in der zehnten Klasse und wollten herausfinden, wie man ein erschwingliches Proteingetränk für den Muskelaufbau herstellt. Sie haben Rezepte recherchiert und gemeinsam mit ihrem Chemielehrer eine Versuchsstrategie entwickelt. Weil nicht alles auf Anhieb klappte, haben sie ihre Versuche immer wieder angepasst und schließlich mithilfe von Milchsäure Milchproteine abgespalten. Damit konnten sie ein Proteinpulver herstellen. Das passende Logo für die künftigen Verpackungen hat Peebe bereits entworfen. „Die freien Vorhaben sind eine schöne Sache,“ sagt er. Und Jesper ergänzt: „Dass man einfach mal was selber machen kann, finde ich toll. Allerdings ist es für mich schwierig, ein Thema zu finden und meine Arbeit selbst zu strukturieren. Aber wenn ich mein Thema spannend finde, schaffe ich das trotzdem.“

Selbstreguliertes Lernen wirkt

Und wie wirkt das selbstregulierte Lernen genau auf die Schülerinnen und Schüler? Was gelingt durch „Freie Vorhaben“, das im Regelunterricht nicht klappt? Neben dem Fachwissen, das sich die Kinder und Jugendlichen forschend erarbeiten, lernen sie vor allem, sich selbst zu organisieren, eine Lernstrategie zu entwickeln und ihr Vorgehen anzupassen, wenn es nötig ist. Sie lernen Präsentationen vorzubereiten und Themen verständlich vorzustellen. Dadurch bekommen sie viel Selbstvertrauen und werden selbständiger. In dieser Intensität kann in einem klassischen 45-Minuten-Rhythmus kaum gelernt werden, selbst wenn der Unterricht so aufgebaut ist, dass Schülerinnen und Schüler individuell lernen können.

„Unsere jüngeren Schülerinnen und Schüler starten unglaublich enthusiastisch und finden es wunderbar, Themen zu erforschen, die ihnen liegen“, freut sich Anne Krahforst. „Ab der neunten Klasse kommt bisweilen die Pubertät hinzu und es wird für manche Jugendliche schwierig, ein eigenes Thema zu finden. Dann sind wir als Lehrpersonen unterstützend gefragt.“ Auch bei der Umsetzung helfen die Lehrpersonen ihren Schülerinnen und Schülern und entwickeln zum Beispiel Arbeitspläne mit ihnen und geben fachliche Tipps, wenn es mal hakt.

Monitor mit Computerspiel

Amon führt im Computerraum sein selbst programmiertes Block-Spiel vor. Er zeigt den Raum, über den die Spielenden in das nächste Level wechseln.

DLR Projektträger

Amon entwickelt ein Computerspiel

Der Neuntklässler Amon spielt und programmiert gern Computerspiele. Im Computerraum hat er ein Block-Spiel entworfen, bei dem es darum geht, mit einfliegenden Quadern möglichst hohe Türme zu bauen. Über ein aufwendig gestaltetes Raumbild gelangen die Spielenden in das nächste Level. Parallel zur Entwicklung entsteht eine detaillierte Beschreibung des Spiels. „Ich finde es toll, Sachen zu machen, die ich will,“ sagt Amon. „Sonst muss ich immer machen, was andere wollen.“

Beim selbstregulierten Lernen sei ein enger Betreuungsschlüssel zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern vorgesehen, erklärt Elke Goldschmidtböing. Wenn aber die gesamte Schule so arbeitet, sei es nicht immer leicht, eine solch gute Betreuung zu gewährleisten. Deshalb werden Ressourcen aus dem gesamten multiprofessionellen Team genutzt und es gibt erste Ideen auch ältere Schülerinnen und Schüler als Lernpartner zu gewinnen. Das sei an einer Förderschule besonders wichtig, wo es körperlich schwer beeinträchtigte Kinder und Jugendliche gibt, die oft Hilfe bei alltäglichen Handgriffen benötigen.

„Manchmal sind wir selbst noch überrascht, wie stark das selbstständige Arbeiten wirkt.“

Anne Krahforst

„Manchmal sind wir selbst noch überrascht, wie stark das selbstständige Arbeiten wirkt“, sagt Anne Krahforst. „Dieses Jahr zum Beispiel hat ein Junge im Autismus-Spektrum eine Spielekonsole inklusive eigener Website und Verkaufsstrategie entwickelt. Normalerweise ist er sehr zurückhaltend und hat wenig Mimik. Aber für sein Projekt hat er einen so großen Ehrgeiz entwickelt, dass er regelrecht aus sich hinausgegangen ist. Er wollte unbedingt den Preis gewinnen, den wir als Schule dieses Jahr zum ersten Mal für die besten Projekte vergeben haben. Das ist ihm gelungen und er hat sich bei seiner Präsentation auf der Bühne unglaublich darüber gefreut. Das war ein Boost für sein Selbstbewusstsein.“ Und die Schulleiterin ergänzt: „Mir hat er erklärt, dass diese Arbeit nicht nur für die „Freien Vorhaben“ sei, sondern für länger bleibe. Und damit hat er natürlich völlig recht.“

Junge vor einem Whiteboard

Emil erklärt seine Eismaschine, die im Wesentlichen aus einem Backblech und einer Kiste besteht, in die man ein Eiswürfel-Salz-Gemisch füllen kann.

DLR Projektträger

Emil baut eine Eismaschine

Emil aus der siebten Klasse hat eine Eismaschine gebaut. Dafür hat er recherchiert, einen Arbeitsplan erstellt und erste Versuche gestartet. Für seine Eismaschine benötigt er Eiswürfel, Salz und einen passenden Behälter, der ein Backblech tragen kann. Bei seinem letzten Versuch war die Speisemasse zwar noch nicht kalt genug, aber für sein nächstes Joghurt-Erdbeer-Rezept ist Emil zuversichtlich. „Für mich war es schwierig, mich zwischen vier Themen zu entscheiden,“ erzählt er. „Außerdem war ich nicht sicher, ob ich aufwendige Kühlsysteme dafür brauchen würde. Aber mit meinem Physiklehrer habe ich herausgefunden, dass es auch ohne gut funktionieren wird.“

Erfolgskonzepte weitergeben – im Schulnetzwerk

Anne Krahforst und Elke Goldschmidtböing arbeiten als Multiplikatorinnen in einem Netzwerk. So geben sie in der Transferphase von „Leistung macht Schule“ ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit dem selbstregulierten Lernen an Schulen weiter, die sich damit noch nicht gut auskennen. Dafür wurden sie von Forschenden der Universität Münster als Multiplikatorinnen fortgebildet, die ihr Wissen möglichst gut weitergeben können.
Von der Grundschule Wiedenest in einem Ortsteil von Bergneustadt hat die Anna-Freud-Schule selbst etwas Wichtiges gelernt: Nämlich wie das selbstregulierte Lernen an einer ganzen Schule gut umgesetzt werden kann. Die Lehrpersonen in Wiedenest wiederum freuen sich über gut aufbereitete wissenschaftliche Hintergründe und Arbeitsmaterialien, die sie aus Köln bekommen. Das Material wurde eigens für „Leistung macht Schule“ entwickelt und basiert auf Erkenntnissen von einem Forschungsteam der Universität Münster. Anne Krahforst hat es gemeinsam mit den dortigen Verantwortlichen für den Einsatz an den Schulen intensiv weiterentwickelt. Nun ist alles noch nutzerfreundlicher gestaltet.

Zwei Frauen

Schulleiterin Elke Goldschmidtböing und didaktische Leiterin Anne Krahforst

Elke Goldschmidtböing, Anne Krahforst

Das Schulnetzwerk der Anna-Freud-Schule wird erweitert durch das Gymnasium Alfter und durch das Wüllenweber-Gymnasium in Bergneustadt. Diese Schulen freuen sich über Erfahrungswerte mit dem schulweiten selbstregulierten Lernen, sagt Anne Krahforst. Denn oft würden Gymnasien nur das Drehtürmodell kennen, in dem nur wenige ausgewählte Schülerinnen und Schüler außerhalb des Regelunterrichts interessenbezogen lernen dürfen. „Aber unsere Netzwerk-Gymnasien möchten, dass wenigstens ganze Stufen davon profitieren“, hält sie fest.

Und Elke Goldschmidtböing ergänzt: „Für uns ist es wichtig, dass Schulen mit einer Sekundarstufe II in unserem Netzwerk sind, weil wir das selbstregulierte Lernen demnächst auch in der Oberstufe einsetzen wollen. Dafür können wir gemeinsam etwas entwickeln. Und es macht uns großen Spaß, mit Schulen zusammenzuarbeiten, an denen eine regelrechte Entwicklungseuphorie herrscht.“

Die acht Schulen des Netzwerks treffen sich viermal im Jahr. Außerdem hospitieren die Lehrpersonen der Schulen gegenseitig bei ihren „Freien Vorhaben“. „Dabei tauschen wir viele Materialien aus“, erklärt Anne Krahforst. „Das macht den Einstieg für die neuen Schulen viel angenehmer und auch leichter.“

„Für solche Veränderungen braucht man mutige Kolleginnen und Kollegen, die auch mal außerhalb der Box denken. Solche, die wirklich den Blick auf das Kind richten und es ermutigen, sich auch mal auf ein Abenteuer einzulassen.“

Elke Goldschmidtböing

Was ebenfalls sehr wichtig ist: Gemeinsam gute Argumente zu sammeln, für die Einführung des selbstregulierten Lernens gegen Kritikerinnen und Kritiker, die bremsen. Und so hält die Schulleiterin Elke Goldschmidtböing abschließend fest: „Für solche Veränderungen braucht man mutige Kolleginnen und Kollegen, die auch mal außerhalb der Box denken. Solche, die wirklich den Blick auf das Kind richten und es ermutigen, sich auch mal auf ein Abenteuer einzulassen.“


Schulleiterin Elke Goldschmidtböing

Elke Goldschmidtböing studierte an der Universität zu Köln die Fächer Mathematik und Chemie für die Sekundarstufe I und II. Sie war im Referendariat und als Vertretungslehrerin an mehreren Gymnasien in und um Köln tätig, bevor sie 2001 an der LVR-Anna-Freud-Schule fest angestellt wurde. Von 2008 bis 2019 war sie didaktische Leitung der Anna-Freud-Schule und seit 2019 ist sie dort Schulleiterin. Von 2006 bis 2018 war sie zudem als Moderatorin im Bereich Chemie und in der Schulentwicklungsberatung mit dem Blick auf die Fachkonferenzen tätig. Im Schuljahr 2015/16 arbeitete sie in der Arbeitsgemeinschaft „Gemeinsames Lernen im Chemieunterricht“ im Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen mit. Ein Ziel zieht sich durch ihr Berufsleben: Sie möchte Schülerinnen und Schülern ermöglichen, ihre Interessen und Talente zu entdecken, und so selbstreguliertes Lernen möglich machen.  

Lehrerin Anne Krahforst

Nach ihrem Lehramtsstudium in Deutsch und Erdkunde für die Sekundarstufe I und II hat Anne Krahforst ihr Referendariat in Menden im Sauerland absolviert. Seit 2002 arbeitet sie als Lehrerin an der LVR Anna-Freud-Schule in Köln. 2020 übernimmt sie dort auch die didaktische Leitung. Im Rahmen von „Leistung macht Schule“ ist sie an ihrer Schule seit 2018 verantwortlich für das Schulentwicklungsprojekt SKILL. Seit 2024 ist sie Multiplikatorin für „Leistung macht Schule“.